Offener Gesprächskreis - Filmclub

Der Schimmelreiter 1984
Eine Gemeinschaftsproduktion des DDR-Fernsehfunks und der Telewizja Polska

1984 war ein Jahr der Gegensätze. In der Bundesrepublik standen ca. 500.000 Soldaten unter Waffen, in der DDR knapp die Hälfte. Denen standen im gesamten Ostblock 3,3 Mio. Rotarmisten zur Seite. Der Westen stationierte Mittelstrecken-Raketen und der Osten boykottierte die Olympischen Spiele in Los Angeles. Für 320 Mio. DM kaufte die BRD Ausreisewillige aus der DDR frei und die Bundes-deutschen gewährten den wirtschaftlich schwächelnden Ostdeutschen einen Kredit von 1 Mrd. DM.
Genau in diesem Jahr produzierten der Fernsehfunk der DDR und die Telewizja Polska eine Neuverfilmung des Schimmelreiters. Die filmische Realisierung folgte konsequent der Textvorlage. Sicherlich hatten unter Lech Walesa die aufbegehrenden Polen kein Interesse daran, die Storm'sche Novelle für ideologische Propaganda zu missbrauchen. Das entsprach wohl auch dem Intentionen des ostdeutschen Regisseurs Klaus Gendries.


Der selbstbewusste Aufsteiger Hauke Haien wurde von dem 26-jährigen Sylvester Groth dargestellt. Ein heute noch bekanntes Gesicht aus zahlreichen Fernseh- und Filmproduktionen. Die 84er Fassung zeigt einen Hauke Haien, der kaum etwas anderes im Kopf hat, als das angemessene Profil eines künftigen Deiches zu entwickeln. Im Gegensatz zu der 33er Version plagen diesen Schimmelreiter keine Selbstzweifel, auch wenn er letztlich seine gesellschaftliche Stellung seiner Frau Elke zu verdanken hatte. Er ist – wie in der Novelle – ein unreligiöser Zeitgenosse, der sich gegen den Aberglaube in der Gemeinde und gegen den intriganten Stimmungsmacher Ole Peters energisch zu Wehr zu setzen weiß.
Ergänzend zur Spukgeschichte liegt das Hauptaugenmerk dieser Filmproduktion auf dem vernunftwidrigen Aberglauben und damit z.T. auch bestimmter Religionsauslegungen, die einem wissenschaftlichen Fortschritt und gesellschaftlicher Veränderungen im Wege liegen. Die spröde Elke Volkerts akzeptiert trotz ihres Reichtums die beherrschende Stellung Haukes in der Ehe, weil er mit einem überragenden Geist und einer ungewöhnlichen Tatkraft ausgestattet ist. Allerdings tritt sie in entscheidenden Momenten auch nach außen und gegenüber Honoratioren sehr bestimmt und vernunftgeleitet auf. Beide Partner spüren, dass sie nur miteinander existieren können und dass ohne den Anderen ihr Leben zwecklos wäre.
Leitmotivisch sieht man im Film ständig Sequenzen des Schimmel reitenden Deichgrafen, die mit immer derselben Musik untermalt werden.
Die politische Aussage entspricht die des Autors und die der frühsozialistische
St. Simonisten: dass nur das eine gerechte Gesellschaft sein kann, die nicht auf Geburt, sondern auch Leistung gründet. Insofern verkörpert Hauke Haien in geradezu idealer Weise den kommunistischen Edelmenschen, der seine Leistungskraft für das Gemeinwohl opfert, auch wenn das einfache Volk diese Opferbereitschaft gar nicht erkennt und zu schätzen weiß.
Die Dialoge besitzen auch in dieser Fassung nur eine beschränkte Wirkung, auf irgendwelche „Führerreden“ wird gänzlich verzichtet.

Im Literaturkreis wurde die Frage erörtert, warum überhaupt Elke das sichere Haus auf der Warft und sich mit Kind und Hund in Lebensgefahr brachte? Diese Frage stellten sich wohl auch Dramaturg und Regisseur. Sie versetzten Elke in Panik, weil sie aufgrund des starken Sturmes nicht Fenster und Türen ihres Anwesens schließen konnte. Die Tatsache, dass bei den sich ankündigenden Naturgewalten diese überhaupt geöffnet waren, ist natürlich überhaupt nicht nachvollziehbar und diese Unvorsichtigkeit passt auch nicht zu einer so reflektierten Frau wie Elke.
Im Gegensatz zu der 33er-Inszenierung wird auf folkloristische Elemente fast völlig verzichtet. Wie in der Novelle gibt es einen internen Zweikampf zwischen Hauke und Ole beim Boseln und nicht bei einem Ritterspiel. Das Volksvergnügen wird vor allem auf den Endkampf zwischen den Beiden konzentriert.
Aufgrund des Verzichtes auf jedwede ideologischen Seitensprünge kann angenommen werden, dass dieser Film auch in Westdeutschland hätte gedreht werden können.
Besonders zu loben ist die beeindruckende Kameraführung bei Landschafts- und Naturaufnahmen. Das gedrosselte Handlungstempo spiegelt in gewisser Weise auch norddeutsches Temperament und Nachdenklichkeit wider. Selbst die steigende Sturmflut wird durch Wiederholungen allmählich als wachsende Bedrohung hingestellt.

Insgesamt waren alle Zuschauer von dem Film beeindruckt und lobten seine Wahrhaftigkeit in Bezug auf die Textvorlage. Wahrscheinlich hätte auch Theodor Storm an dieser Inszenierung seines Werkes nichts auszusetzen gehabt.

Wolfgang Schwarz, November 2015