Der Filmclub meldet sich zu Wort 

Aufsatz zum Film "Und Nietzsche weinte" (traurig, aber wahr)

Mitten im Sommer, genauer am 16.07.15, trafen sich die Filmclubmitglieder im bruhtigen Aka-Treff. Andere lagen währenddessen am Strand des Bugasses oder kühlten ihr Mütchen an Eis und kaltgestelltem Sekt.

Wir, die Durchhalter, suchten die Herausforderung: „Und Nietzsche weinte“, ein Film, von dem wir wussten, dass er unsere ganze Aufmerksamkeit herausfordern würde, ja unsere Verständnisfähigkeit sogar überschreiten könnte. Trotz der Hitze und unserer Freiheit: „Nein“ sagen zu können, folgten wir dem Literaturphilosophen: „ Es gibt keine Erzieher“, es gibt nur Selbsterziehung.
In dem anspruchsvollen, fiktiv-realen Film gibt es 4 Hauptfiguren und einen Hintergrunddarsteller: den berühmten Wiener Arzt jüdischer Herkunft Josef Breuer, seine Patientin Anna O. (eigentlich Bertha Pappenheim), den kränkelnden Jahrhundertphilosophen Friedrich Nietzsche, die klug-gewitzte und freiheitsliebende Lou Salomé und die Schattenfigur Sigmund Freud, im unbedarften Alter von 26 Jahren, Schüler und Profiteur. 

 

Der Chronist schreibt das Jahr 1882. Der berühmte Arzt Josef Breuer war den Tränen nahe, denn er litt unter Geburtstagswahn, er war soeben 40 Jahre alt geworden und wusste nicht, wie es mit ihm weitergehen sollte – mittendrin in der Midlife – Crisis! Mitverantwortlich für sein Dilemma die quicklebendige, hochneurotische 20jährige Patientin Bertha Pappenheim, ein Tyrannenkind! Der Vater, ein unbelehrbarer orthodoxer Jude, die Mutter ein Rechthaber- und Erziehungstyrann, der Bruder ausgestattet mit übermächtiger Herrschsucht. Kein Wunder also, dass Seh- und Gesichtsstörungen schon bei der 11jährigen Bertha auftraten. Sie hörte Stimmen, litt unter Halluzinationen und versuchte dies mit hysterischen Anfällen zu kompensieren. Als ihre spätpubertären Phantasien von ihr Besitz ergriffen, war kein Mann vor ihren erotischen Lockmethoden sicher. Josef Breuer wurde Retter und gleichzeitig auch ihr Opfer. Breuer entwickelte die sog. Redekur ohne Zensur und dämpfte so die Symptome ihrer körperlichen und seelischen Erkrankungen. Wegen der Intervention der Ehefrau Mathilde oder möglicherweise auch wegen seines erotischen Verlangens gab Breuer 1882 die Therapie auf und übergab die Patientin einem Arzt am schönen Bodensee. Später wurde Bertha eine angesehene Sozialarbeiterin und Führerin der jüdischen Frauenbewegung. Die Fallgeschichte wurde von Breuer und Freud unter dem Titel „Der Fall der Anna O.“ veröffentlicht. Diese Fallgeschichte gilt als ein Initiativwerk der Tiefenpsychologie. 
Etwa zeitgleich durchlebte Friedrich Nietzsche die zweite große Sinnkrise seines Lebens. Nach dem Bruch mit Richard Wagner war es diesmal eine Frau, die den Denker in tiefe Verzweifelung stürzte. Die begeisterte Nietzsche-Anhängerin Lou wies gleich dreimal die Heiratsanträge des Freidenkers zurück, denn sie hatte sich geschworen, keine übliche Ehe einzugehen. Zwar bildete sie mit Friedrich und dessen Freund Paul Rée eine Wohngemeinschaft, die sich strikte Enthaltsamkeit auferlegt hatte, aber wie sich denken lässt, funktionierte die „Dreieinigkeit“ gerade auch wegen des leidenschaftlichen Philosophen nicht. Nietzsche bedachte daraufhin Lou mit Hasstiraden, die sich später auch teilweise in seinen Aphorismen über Frauen im Allgemeinen widerspiegelten. 

Das Dreieinigkeitsdilemma und der Fall Anna O. hatten personell nichts miteinander zu tun, doch war die Gleichzeitigkeit für den berühmten amerikanischen Psycho-therapeuten und Romanschriftsteller Irvin D. Yalom Anlass genug, daraus eine höchst famose Geschichte mit dem Titel „Und Nietzsche weinte“ zu spinnen. Die Verfilmung des Stoffes orientiert sich ziemlich genau an der Romanvorlage. Einige filmtechnische Kunstgriffe waren zwar sehr beeindruckend, führten aber auch zu manchen Verwirrungen hinsichtlich der inneren Struktur des Filmes. In den fiktiven Treffen von Lou (Andreas) Salomé und Dr. Breuer wird zunächst die Strahlkraft der jungen Abenteuerin den Zuschauern vor Augen geführt. Ihr Selbstbewusstsein, ihr Verstand, ihr Engagement, aber natürlich auch ihre freundschaftlich-erotische Ausstrahlung und vor allem ihr bezauberndes Lächeln verwirren und gewinnen den berühmten Arzt, so dass er sich fast widerstandslos auf eine Behandlung des psychosomatisch schwer kranken Philosophen einlässt. Zu Anfang des Films wird zudem eine Szene dargeboten, die 7 Jahre später Nietzsche Nervenkrankheit einleitete: Der philosophische Weltverbesserer umarmt ein Pferd, um es vor den Schlägen des Kutschers zu bewahren. Im weiteren Verlauf offenbaren die Gespräche des Doktors mit Lou und später auch mit Nietzsche, dass Josef Breuer selbst an Verzweiflung leidet. Dies wird mit beeindruckenden Traumsequenzen verdeutlicht. Neben der Visualisierung werden auch bekannte Szenarien aus Oper und Ballett dargeboten. Der erste Alptraum zeigt eine Kahn-Schwan-Partie mit der Musik aus dem Schwanensee, die mit einer Verbrüderungsszene von Nietzsche und Breuer endet. Leitmotivisch tänzelt Erlkönigs Tochter „Bertha“ verführerisch am Uferrand. Später wird Breuers Leidenschaft für Bertha durch die Habanera der Carmen
(L´Amour est oiseau rebelle) untermalt. 
Anders als im Roman versucht Lou mehrfach mit Nietzsche Kontakt aufzunehmen. So dringt die Stalkerin in Nietzsches Domizil und beobachtet ihn, wie er auf seinem Schreibtisch stehend, das innere Orchester leitend, Wagners Walkürenritt dirigiert. Da die Therapie bei Nietzsche, der sich nicht offenbart und seinen Mangel an Liebe nicht preis gibt, beschließt der leidende Therapeut die Leitung der Sitzungen Nietzsche zu überlassen, da er sich aufgrund dessen psychophilosophischer Beobachtungsgabe einen Weg aus seiner Lebenskrise verspricht. 
Bei einem Friedhofbesuch der beiden Therapieduellanten stellt Nietzsche fest, dass Breuers Mutter, sie starb als der Sohn 3 Jahre alt war, auch „Bertha“ hieß, genau wie die Tochter der Eheleute Mathilde und Josef Breuer. Wenn das nicht eine tiefenpsychologischer Zufall ist? Das Tor hatte er zwar aufgestoßen, aber dann doch nicht den Hof betreten. 
Nach vielen Therapiesitzungen unter Leitung Nietzsches offenbart dieser seine Todesangst: Im Traum steigt der Vater aus dem Grab und kehrt mit dem Knaben Friedrich auf dem Arm in dieses zurück. 
Nietzsches therapeutische Bemühungen um Breuer aber scheitern letztendlich. Erst Freuds Hypnose bringt zumindest für Breuer die Erweckung. In Trance durchlebt der Arzt Ausbruchswünsche und deren Scheitern, die Befreiungsversuche im Sinne Nietzsches scheitern. Breuer wird zum Deppen (untermalt mit der Tunichtgut-Arie aus dem „Barbier von Sevilla“) und will sich das Leben nehmen. Doch Freud rettet den Ertrinkenden, indem er ihn aus der Trance erweckt. Jetzt erkennt der Verwirrte endlich, das die Freiheitsideale Nietzsches nicht die seinen sind. Er sagt sich von Bertha los und findet beglückt zu seiner Frau und den 5 Kindern zurück. So hat einer der Urväter der Psychoanalyse seine Midlife-Krise noch um mehr als 40 Jahre überlebt. Und nicht nur Mathilde wird sich darüber gefreut haben! 
Zwar hat der Rollentausch auch Nietzsche Einsamkeit und seinen Liebesschmerz bezüglich Lou offenbart, aber anders als bei Breuer konnte sich der einsame Denker nicht über eine Heilung freuen. 7 Jahre lebte er unter Schmerzen für sein Werk, ehe er endgültig dem Wahnsinn verfiel und das auferlegte Joch seiner Schwester ertragen musste. 

Wolfgang Schwarz, 17.09.2015

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