Vorlesen und Erzählen

Der Dritte im Bunde:

Friedrich Hebbel und das Wesselburener „Anti-Platt“ – Syndrom

Friedrich Hebbel (1813 – 1863) hatte es nicht weit bis nach Heide, durch die Heide waren es  ca. 1O km. Aber wie oft er dorthin keuchend gewandert ist, wurde vom jungen Friedrich nicht preisgegeben. Wir wissen allerdings von Klaus Groth, dass er Hebbel kurz vor dessen  Flucht nach Hamburg einmal begegnet war. Wesselburen war für Hebbel ein Trauma. So lässt sich wohl auch erklären, dass er in seinem lyrischen Werk nicht den Versuch unternahm, ein Gedicht im Wesselburener Platt zu verfassen. Allerdings lobte er später das niederdeutsche Werk seines Landsmannes Klaus Groth. Ansonsten war er mit Kritik an seinen zeitgenössischen Dichterkollegen schnell bei der Hand, so dass das Lob für Groth um so höher einzuschätzen ist. Als Hebbel sich einen Namen gemacht hatte, lebte in Wesselburen aus seiner Familie nur noch der Bruder Johann, der sich als Tagelöhner über Wasser halten musste. Sein Bruder ähnelte dem verhassten Vater und in der Jugend war Johann zudem auf Mutters Liebling „Friedrich“ eifersüchtig. Nachdem Hebbel mit 22 Jahren Wesselburen verließ, hatte er nie mehr heimatlichen Boden betreten.

 

Seine Mutter, die ebenfalls ähnlich jähzornig war wie der Dichter, starb 1838 und wäre so nur noch an ihrem Grabe zu besuchen  gewesen.  Hebbel zog  1835 in die weite Welt hinaus, süchtig nach Ruhm und Anerkennung, und versuchte zunächst sein Glück in Hamburg, fand dort seine Geliebte und spätere Ehefrau, residierte später in Wien als weltberühmter Dramatiker, starb aber bereits mit 50 Jahren.
Seine Gedichte sind oft Stimmungsbilder mit dramatischem Hintergrund und von philosophischer Tiefe.
   
                               Nachtlied

                                           Quellende, schwellende Nacht
                                           Voll von Lichtern und Sternen:
                                           In den ewigen Fernen,
                                           Sage, was ist da erwacht?

                                           Herz in der Brust wird beengt,
                                           Steigendes, neigendes Leben,
                                           Riesenhaft fühle ich weben,
                                           Welches das meine verdrängt.
                                                                                                     

Antithetisch formuliert der Dichter die Weite und Schönheit des Universums gegenüber dem Beschränkten und Verängstigtem im eigenen Leben.

Das Gefühlvolle, Kämpferische kommt in der folgenden Strophe zum Ausdruck:

                               Abendgefühl

                                           Friedlich bekämpfen
                                           Nacht sich und Tag
                                           Wie das zu dämpfen
                                           Wie das zu lösen vermag!

Das dramatisch-philosophische Element wird selbst in der Erinnerung an die Mutter noch eingebettet in den Kampf ums Dasein:

                               Nachtgefühl

                                           Ich denke der alten Tage,
                                           Da zog die Mutter mich aus;
                                           Sie legte mich still in die Wiege,
                                           Die Winde brausten ums Haus.

Auch hier, wieder die Bedrohung des Lebens:

                              Sommerbild

                                           Ich sah des Sommers letzte Rose stehn,
                                           Sie war, als ob sie bluten könne, rot;
                                           Da sprach ich schauernd im Vorübergehn:
                                           So weit im Leben ist zu nah am Tod!

Der Zweifel, dass an anderem Ort die innere Problematik auflösbar ist:

                              Dämmer-Empfindung

                                            Was treibt mich hier von hinnen?
                                            Was lockt mich dort geheimnisvoll?
                                            Was ists, das ich gewinnen,
                                            und was, womit ichs kaufen soll?


Die Spannung des Lebens ist ja auch Ergebnis einer ständigen Bedrohung und so wählte ich eine letztlich versöhnliche Ballade von Hebbel, in Ermangelung plattdeutscher Lyrik:

                              Das Kind am Brunnen

                                            Frau Amme, Frau Amme, das Kind ist erwacht!  
                                            Doch die liegt ruhig im Schlafe.
                                            Die Vöglein zwitschern, die Sonne lacht,
                                            Am Hügel weiden die Schafe.

                                            Frau Amme, Frau Amme, das Kind steht auf,
                                            Es wagt sich weiter und weiter!
                                            Hinab zum Brunnen nimmt es den Lauf,
                                            Da stehen Blumen und Kräuter.

                                            Frau Amme, Frau Amme, der Brunnen ist tief,
                                            Sie schläft, als läge sie drinnen!
                                            Das Kind läuft schnell, wie es nie noch lief,
                                            Die Blumen locken von hinnen.

                                            Nun steht es am Brunnen, nun ist es am Ziel,
                                            Nun pflückt es die Blumen sich munter,
                                            Doch bald ermüdet das reizende Spiel,
                                            Da schaut´s in die Tiefe hinunter.

                                            Und unten erblickt es ein holdes Gesicht,
                                            Mit Augen so hell und so süße.
                                            Es ist sein eignes, das weiß es noch nicht,
                                            viel stumme, freundliche Grüße!

                                            Das Kindlein winkt, der Schatten geschwind
                                            Winkt aus der Tiefe ihm wieder.
                                            Herauf1 Herauf! So meints das Kind;
                                            Der Schatten: Hernieder! Hernieder!

                                            Schon beugt es sich über den Brunnenrand.
                                            Frau Amme, du schläfst noch immer!
                                            Da fallen die Blumen ihm aus der Hand
                                            Und trüben den lockenden Schimmer.

                                            Verschwunden ist sie, die süße Gestalt,
                                            Verschluckt von der hüpfenden Welle,
                                            Das Kind durchschauerts fremd und kalt,
                                            Und schnell enteilt es der Stelle.      
                                                                                                   
In diesem an den Narziss-Mythos erinnernden Motiv wird das Schöne (die Blumen) geopfert und das Leben des Knaben gerettet. Das Brunnenmotiv in Klaus Groths „Min Jehann“ ist Ort geistiger Tiefe, während hier Offenbarung des Schönen, aber auch des Gefährlichem. Das Wasser ist Lebensspender, aber auch Lebensvernichter.


Eine Schreibübung

Brandopfer in den Katakomben

Es ist ein sonniger Dienstag im Mai. Die Studenten aalen sich auf dem Campus in der Sonne. Und wir? Wir, die Wenigen, die eifrigen Jünger der Schreibkunst sitzen in der Bibliothek des deutschen Seminars, umgeben von voll gestopften Regalen mit niederländischen Büchern. Wir haben zwar eine Ahnung vom schönen Wetter, aber denken nur an die Schreibanregung, die gerade von unserer Schreiblehrerin verkündet wurde. Es ist Dienstag und Schreiben ist unser Dienst an diesen Tag. Wir sollen uns von den vielen Büchern inspirieren lassen. Die Chefin führt uns in die Katakomben der Bibliothek. Wir sitzen hinter vergitterten Fenstern vor Regalen, die Klassiker beherbergen, die  mit dem Buchstaben „H“ beginnen. Ich schwanke zwischen „Heine“ und „Hebbel“. Meine Liebe gehört Heine, aber in klösterlicher Enthaltsamkeit entscheide ich mich für Hebbel. Das Wesselburener Platt ist mir Dank Klaus Groth ans Herz gewachsen. Entschlossen trete ich ans Regal, durchblättere die Jahrbücher der Hebbel-Gesellschaft. -  Endlich, der literatur-archäologische Fund des Jahres 2002: Heinrich Deterings, „Herkunftsorte“, Literarische Verwandlungen, Heide 2001, S.45-81.Zu diesem Werk befindet sich eine Rezension in dem Jahrbuch. Ein Jemand äußert sich zu dem Hebbelteil der Herkunfts-Untersuchung und bedient sich selbst einer literaturwissen-schaftlichen Attitüde. Der Rezensent referiert, kommentiert mit neidvollem Unterton. Kein Wunder, der professorale Autor ist ein Großer: Heinrich Detering,  ein Kronzeuge der holsteinischen Literatur, ein Literatur-Papst an der Lock-Uni Göttingen. Der von vielen Angehimmelte schreibt über erfolgreiche, sogar geliebte Schriftsteller aus dem hohen Norden. Zu erwartende Folge: Die weißbehaupteten Damen der UDL würden jenen Rezenten in dem verfluchten Jahrbuch wahrscheinlich verfluchen, hätten sie seine brave Besprechung gelesen. Immerhin würden dann die Betschwestern von Magister Schnöterich erfahren, dass der große Literaturkenner die Novellenfigur „Anna“ als Hebbels Alter-Ego ansieht. Gewählter drückt sich der Wesselburener dabei aus: Anna wird als „autobiographische Projektions-Figur des jungen Dichters“ Hebbels bezeichnet.

Nun aber zum Original: Friedrich Hebbel mochte das platte Land nicht – de düwel shall hem holn -. Der junge Friedrich wollte einfach weg aus der Weite der Marsch, der Enge und den Demütigungen der Gassen. Ab nach Hamburg, seine Genialität beweisen, überzeugt, dass ihm ein späterer Erfolg auch zustehe. So schreibt er in sein 1835 in Hamburg begonnenes Tagebuch: „Ich fange dieses Heft nicht allein meinen zukünftigen Biographen zu Gefallen an, obwohl ich bei meinen Aussichten auf die Unsterblichkeit gewiss sein kann, dass ich eine erhalten werde.“ (Friedrich Hebbel, Poesie der Idee, Tagebuchaufzeichnungen, Frankfurt 2013, S.7). Aber Erfolg lässt sich auch in Hamburg nicht erzwingen und manchmal fehlt selbst den Hanseaten Geduld und Weitsicht: Das „Johanneum“, das Hamburger Elite-Gymnasium, versagt ihm die Hochschulreife und auch seine Fee, Amalia Schoppe, die dafür sorgte, dass der bettelarme Friedrich ein Stipendium erhielt, will ihm nicht mehr aus der Patsche helfen. Nur die 9 Jahre ältere Elise Lensing kann den 22-Jährigen noch einige Monate an die schöne Hansestadt binden. – Auch hier ein bezeichnender Satz über seine Beziehung zu Elise, der Aufopferungswilligen und Mutter zweier seiner Kinder: „Es ist merkwürdig, wie die Frauen, die am Mann doch nur eben das lieben, was ihrer Natur gerade entgegengesetzt ist, ihn doch so gerne zu dem machen wollen, was sie selbst sind“ (Tagebuch, S. 10).

Sich bloß nicht festbeißen! Ich hänge hier fest, träume in den Katakomben der Fachbereichsbibliothek des deutsche Seminars. Dann aber besinne ich mich, atme tief durch, inhaliere die altpapier-duftenden Luft des Seminarraums. Nicht nur Friedrich interessiert uns, sondern oder gerade auch „die autobiographische Projektionsfigur Anna“. Vielleicht kehrt sie ja das Innere des künftigen Erfolgsdramatikers nach außen. Es gibt ein historisches Vorbild für die Novelle: 1736 hatte eine unachtsame Magd den großen Wesselburen Brand ausgelöst.Was sich alles in dieser Bibliothek finden lässt! – Aber die Zeit rennt mir davon. Noch 40 Minuten und nur Stichwörter zu Papier gebracht! Ein schneller Griff in die Novellen-Sammlung: „Anna“, nur wenige Seiten.

Anna, sangesfroh, freut sich auf den Dorftanz, die letzten Arbeiten sind zu verrichten, die junge Magd, - och en seute Deern un ne groote Snut. Dor kömmt he, der Trottel, der
Freiherr von Eichenthal und dat im Schlafrock-, ein verlebter Hypochonder, ein Lüstling, kürzlich bei Anna abgeblitzt. Er erteilt ihr Tanzverbot und verordnet Zwangsarbeit: Der Flachs soll durch rasche wirbelnde Bewegungen  des Flachshechel in der Kammer belüftet werden. Vor Wut schmeißt die mutige Magd eine Porzellanschüssel auf die Erde. Die Strafzeit wird verlängert und die neidischen Bediensteten und stillen Beobachterinnen lachen sich ins Fäustchen, endlich bekommt die Freche ordentlich was auf den Deckel! Ihr Geliebter will sie befreien, aber Anna will die Strafe abdienen. Es kommt zum Streit, die brennende Kerze entflammt den Flachs. Anna will den Brand löschen, will noch retten, was nicht mehr zu retten ist. Sie stirbt in den Flammen wie auf einem Scheiterhaufen. Der Freiherr sieht in ihr eine Brandstifterin und lässt ihre Gebeine auf den Schutt werfen.

Das war also das Ende des Alter-Ego des armen Friedrich Hebbel. Der Professor weiht sie zur  mutigen  Widerständlerin, die der Willkür und der Schuftigkeit eines bösen Adeligen zum Opfer fällt. So bleibt uns nicht nur Friedrich, sondern auch Anna in seliger Erinnerung! - Ach ja: Friedrich! Reizbar und jähzornig war er schon! - Und sonst?   

Schon wieder fange ich an zu träumen. Aus dem Nebel der Erinnerung taucht er wieder auf, der Literatur-Papst aus dem hohen Norden. Der Angehimmelte doziert über Hebbel, die Weißgehaupteten hängen ihm an den Lippen, ich schweife ab, eile voraus, denke an den erfolgreichen Dramatiker in Wien: Die elegante Theaterwelt und mittendrin der Gockel, umgeben von wohlduftenden, fülligen Damen, Hebbel endlich unsterblich, wie von ihm selbst vorausgesagt. Ich erlebe  eine Metamorphose: Unten im Hörsaal wandelt ein großer, schöner, schlanker und kluger Professor. Die UDL-Frauen schmelzen dahin. Man könnte neidisch werden! Und dieser Glücksfall der Natur spricht über seinen Landsmann, dem vor 150 Jahren verblichenen Friedrich. Da merke ich plötzlich: Eine Traumverwechselung liegt vor. Ich höre eine Lesung über den göttlichen Bob Dylan und seine Mysterienspiele.
Schluss mit der Verwirrung, ich stürze die Treppen hinauf. In der niederländischen Bibliothek wartet schon die Schreiblehrerin mit ihren ihr treu ergebenen Schreibgenossen, sie warten auf den, der alles durcheinander bringt. Sie sind sich trotzdem einig: Man sollte ihn nicht vorzeitig abschreiben. Und ich? Ich freue mich auf die nächste Vorlesung  des Eisernen Heinrich.      

P.S. Nach diesen turbulenten Stunden gehe in die nächste Buchhandlung. Ich frage nach den „Herkunftsorten“ – Leider vergriffen! Nun erzähle ich der Buchhändlerin von der Vorlesung. Bei dem Namen „Heinrich Detering“ entweicht ihr ein glückliches „Ach“ und sie lächelt mich an. So habe ich auch noch etwas abbekommen! Ich lächle zurück.                 

Wolfgang Schwarz,                    versendet an einem warmen Juniabend 2017