Nochmals Storm
Theodor Storm, Liebe zwischen Alltagsbewältigung und Liebestod
Im Literaturkreis sowie im Filmclub/Vorlesen haben wir uns des Öfteren mit Theodor Storm beschäftigt. Bisher waren es vor allem Figuren wie Hauke Haien und Elke Volkers oder die Beziehungen des Dichters zu seinen niederdeutschen Kollegen. Das eigentlich Biographische trat dabei in den Hintergrund. Deshalb scheint eine Spurenlese bezüglich der Kindheit und Sozialisation des Lyrikers und Novellendichters nicht uninteressant. Es sind einmal die bekannten Daten und zum anderen die Befindlichkeit des großen Friesen im Spiegel seiner Lyrik, die möglicherweise Aufschluss geben über die innere Motivlage des norddeutschen Erfolgsautors. Kein Zweifel: Theodor Storm war kein einfacher Mensch, daran ändert auch die doppelte Verneinung nichts, verantwortlich waren dafür natürlich seine Kindheitserfahrungen.
Der Knabe sehnte sich nach elterlicher Liebe. Friesisch hart tönte ein Hauchen der Ignoranz durchs stattliche Mauerwerk: Weder Vater noch Mutter wollten oder konnten nicht des Knaben Sehnsucht befriedigen. Mutter Lucie kannte es von ihrer Familie Woldsen selbst nicht anders und der Vater liebte nur seinen Beruf. Auch Theodor gelang der Brückenschlag nicht, er störte sich allzu oft an den intellektuellen Grenzen seiner Mutter und erkannte früh, dass auch sein Vater dieses Defizit mit Verachtung strafte. Er war ständig auf der Flucht und bei familiären Zusammen-künften täuschte er häufig wichtige berufliche Termine vor, die seine Teilnahme angeblich unmöglich machten. Es war wohl der Liebesentzug, der bei Klein-Theodor hypochondrische Verhaltenweisen hervorrief, um Aufmerksamkeit und Mitleid zu erregen. So versucht er früh, sich aus der kühlen Atmosphäre der elterlichen Heimstätte zu lösen. Noch vor der Aufnahme eines Studiums sucht er emotionale Bindungen mit verpflichtendem Charakter: Einmal reizt ihn das Mutterkindliche bei Bertha v. Buchan und zum anderen verlobt er sich mit Emma Kühl. Beide Verbindungen scheitern, sie machen auch deutlich, wie sehr sich der jugendliche Theodor nach einer tragfähigen Verbindung mit Langzeitperspektive sehnt. Noch im Alter erwähnt Storm, dass er sich nicht erinnern kann, dass es seitens der Eltern je einen körperlichen Kontakt zu ihm gegeben habe. Um so tragischer muss der Verlust von Schwester Lucie für ihn gewesen sein, die mit 7 Jahren 1829 starb, mit der er früher das Kinderbett teilte und so zum ersten Mal körperliche Nähe spürte. Wahrscheinlich rührt daher die Vergötterung Berthas, in der er möglicherweise die Auferstehung der geliebten Schwester sah. Glaubt man den Berichten Storms, so fühlte sich der Knabe Theodor in seiner Kindheit allein von seiner Großmutter und seiner Schwester Lucie geliebt.
Die elterliche Distanz führt bei dem sensiblen Knaben fast zwangsläufig zu einer übergroßen Sehnsucht nach uneingeschränkter und opferbereiter Liebe. Solche überspannten Erwartungen trägt er auch an seine Braut Constanze heran. Sie fühlt sich überfordert, zumal Storm sich selbst nicht als bedingungsloser Geber versteht. Aus heutiger Sicht würden wir Theodor Storm als Narzissten und gespaltene Persönlichkeit bezeichnen, viele seiner Zeitgenossen sahen in ihm einen Hypochonder. Sein Vater ahnt Böses, als sein Sohn ihm 1844 die Verlobung mit Constanze offenbart. Die 19jährige Cousine übt aber Nachsicht mit dem erwartungsfrohen Cousin und einigt sich mit ihm auf die Heirat im Jahr 1846. Aber sie konnte oder wollte sich der Liebe nicht in dem Maße hingeben wie es sich der Jungsporn Theodor erträumte. Dieser glaubt bereits ein Jahr später die erträumte, hingebungsvolle Partnerin gefunden zu haben, es ist Dorothea Jensen oder „Do“, wie Theodor sie häufig nennt.
Sicherlich war Constanze gekränkt, als sie von ihrer Konkurrenz erfuhr. Trotzdem will sie selbst, die Schönere, keine Kompromisse machen, die ihren eigenen Überzeugungen widersprechen. Sie scheint aber bereit, um den Bedürfnissen des Gatten genüge zu tun, im gewissen Umfang eine Dreierbeziehung zu akzeptieren. So etwas ist aber in einer Kleinstadt wie Husum undenkbar. So wird Dorothea von der eigenen Familie abgeschoben und die Eheleute Constanze und Theo verbleiben allein im meerumspülten Husum.
In der Beziehung zu Dorothea und dem jungen Advokaten (wie schon beim Heiratsantrag an die kindlich reizende Bertha von Buchan 1842) erkennen wir das Liebesideal des werdenden Dichters. Liebe muss unbedingte Hingabe bedeuten. Dies steht natürlich im Gegensatz zu den biedermeierlich frömmelnden Ansichten der Zeit. Ein Zeitgenosse wie Richard Wagner setzt sich, anders als Theodor Storm, offensichtlich über solche Einschränkungen hinweg. Seine schwärmerische Liebe zu seiner Gönnerin Mathilde Wesendonk, immerhin eine verheiratete Frau, schenkt der Nachwelt die einzigartige Oper „Tristan und Isolde“.
In einem solchen Überschwang der Gefühle bewegte sich wohl auch der heranwachsende Theodor. Doch in seinem Novellenwerk kommt dies im Gegensatz zu manchen Gedichten weniger zum Ausdruck. Immermehr lernt nach dem Fortzug Dorotheas der Ehemann Theodor die Reize und Vorzüge Constanzes schätzen und erhebt sie allmählich zu seiner Ehefrau- und Mutterikone.
Nach der 7.Geburt stirbt Constanze am Kindbettfieber im Alter von 40 Jahren.
Theodor Strom trauert sehr, sucht aber eine Ersatzmutter und Ehefrau. Obwohl er Dorothea längst nicht mehr liebt und sie als „verblüht“ bezeichnet, heiratet er seine einstige Geliebte nach dem Trauerjahr 1866. Dorothea fühlt sich überfordert und durch die Familie gedemütigt, da sie beim häufigen Vergleich mit der Verstorbenen immer schlecht abschneidet. Die Situation entspannt sich für Dorothea etwas, als sie 1868 Tochter Friederike zur Welt bringt. Dennoch halten die Kinder und der Ehemann noch spürbar am sog. Constanze-Kult fest.
Mir scheint, dass diese Kultfigur sich auch in der Ehefrau des Hauke Haien wieder findet.
Wir begeben uns also diesbezüglich bei der tapferen Ehefrau Elke Volkers im „Schimmelreiter“ auf Spurenlese.
Liebestod und Charakterstudie im „Schimmelreiter“
Die Vermutung erscheint wohl nicht abwegig, dass Theodor Storm angesichts des nahenden Todes sich selbst und auch seiner idealisierten Gattin Constanze ein literarisches Denkmal setzen wollte. Schon die äußere Beschreibung von Elke erinnert stark an Constanze: „ihre ruhige Art. ihre klugen Augen“ (Schimmelreiter, Sämtliche Werke,Bd,4, S. 277.) Auch hinsichtlich der praktischen Klugheit und handwerklichen Geschicklichkeit werden Erinnerungen an Constanze geweckt. Sowohl Elke wie auch Constanze nehmen trotz erheblicher eigener Talente sich selbst zugunsten ihrer Ehemänner zurück. Dies deckt sich natürlich auch mit dem damals herrschenden ehelichen Geschlechterzuteilungen. Elke zeigt zudem eine übergroße Opferbereitschaft gegenüber Hauke, indem sie ihr väterliches Erbe dem Deichgraf-Bewerber Hauke Haien überschreibt. Sie handelt so im Sinne einer beginnenden Leistungsgesellschaft zur Überwindung lästiger Standesschranken. Ihre Opferbereitschaft geht sogar soweit, dass sie eine Trennung wegen ihrer Kinderlosigkeit vorschlägt. Dieses Ansinnen lehnt Hauke ab. Er weiß nur zu gut, was er Elke zu verdanken hat. Auch als bei der Tochter Wienke Entwicklungsstörungen deutlich werden, ist er es, der seiner Tochter fürsorgliche Liebe schenkt. Elke ist so ergriffen, dass sie ihre eigenen Beziehungsdefizite gegenüber Wienke überwindet.
Im Gegensatz zu Constanze überlebt Elke das Kindbettfieber, so dass aufgrund dieser Entwicklungsfortschreibung der Liebestod erzähltechnisch möglich wird. Der Liebestod bedeutet für Storm der letzte Beweis einer bedingungslosen Liebe im Sinne des Tristan-Isolde-Mythos. Elke flüchtet bei der vernichtenden Sturmflut aus dem ziemlich sicheren Haus auf der Warft, um möglicherweise an der Seite des geliebten Gatten sterben zu können. Als das Unglück Realität wird, erweitert sich der Liebestod zum Familiensterben. Wienke und der Schimmel werden mit geopfert, da für beide kein tragfähiges Weiterleben mehr möglich erscheint. Haukes letzte Ausrufe: “Mein Kind! Oh Elke, oh getreue Elke!“ - „Herr Gott, nimm mich; verschone die anderen“ (S.370). Der eigene Opfertod ist ein letztes Flehen um die Gnade Gottes.
Immerhin; Im Angesicht des Todes bleibt noch eine Hoffnung, die sich in dieser Novelle teilweise erfüllt: Der Hauke-Haien-Koog widersteht letztlich den Naturgewalten. Viele Menschleben werden gerettet und nicht nur Friesen erinnern sich dankbar an Hauke Haien und seine aufopferungsbereite Frau Elke.
Wolfgang Schwarz im Dezember 2017