Wilhelm Raabe, eine Reiselektüre
Ein Leben vor der Sperlingsgasse
So wenig wissen wir über Wilhelm Raabe, und das, obwohl er in unser erweiterten Region lebte und heute zu den Großen des literarischen Realismus zählt.
Es gibt einiges über seine Vorfahren zu berichten, die erstmals 1567 erwähnt wurden. Damals wird ein Sprössling dieser Sippe erstmals als Angehöriger einer Bergmannsdynastie in Clausthal erwähnt. Um 1700 tauchen dann Blutsbrüder der Raabes in Holzminden auf und Raabes Großväter hatten immerhin den Aufstieg zum Schul- bzw. Postmeister geschafft. Lange wusste man von diesen Ahnen nichts und das lag an Wilhelm Raabe selbst, der sich diesbezüglich ein Schweigegelübde auferlegt hatte.
Eine beinahe glanzvolle Karriere hatte Wilhelms Vater Gustav aufzuweisen. Er wurde 1800 in Braunschweig geboren, wuchs in Holzminden auf und studierte später Jura in Göttingen. Er wurde Beamter, zunächst in Holzminden, kam 1827 nach Eschershausen, wo 1831 auch Klein-Wilhelm geboren wurde und schaffte 1842 den Sprung zum Justizamtmann beim Amtsgericht in Stadtoldendorf. Dort erwies sich die Beförderung allerdings für den Vater als Katastrophe. Die Behörde war völlig verschlampt und Gustav Raabe versuchte, Ordnung in den Laden zu bringen, wurde dafür von seinen Untergebenen aber abgrundtief gehasst. Auch ansonsten bot der 2000-Seelen-Ort nichts Erbauliches. Vater Raabe starb überraschend mit 45 Jahren und seine Beamten rächten sich auf der Beerdigung bei ihrem Vorgesetzten mit giftigen Grabreden.
Dabei sah zunächst alles so gut aus: 1829 heiratete Gustav Raabe die Schwester des Kämmerers aus Holzminden. Schon der Vorname der Mutter von Wilhelm schien Gutes zu verheißen, denn sie trug den Vornamen Auguste, die weibliche Form von August, so hieß nämlich Wilhelms Großvater, der Postmeister. Dieser wurde das große Vorbild für Wilhelm. August war sehr emsig und historisch interessiert Sein hinterlassenes Notizbuch umfasste ca. 500 Seiten und unser späterer Erfolgsautor nutzte diese Informationen häufig für seine historischen Novellen. Die Ehe von Auguste und Gustav soll sehr glücklich gewesen sein und der Vater wurde in Justizkreisen außerhalb Stadtoldendorfs bereits als künftiger Justizminister gehandelt. Auch für den Knaben Wilhelm waren die ersten 10 Lebensjahre die glücklichsten seiner Kindheit. Das Schicksal setzte diesem Wohlergehen ein Ende. Als 1845 Auguste Witwe wurde, war ihr einziger Trost der Sohn Wilhelm. Auguste galt als sehr tüchtig und lebensfroh und die Gespräche mit ihrem Sohn vermittelten ihm großes Allgemeinwissen. Wilhelm liebte seine Mutter sehr und schwärmte noch im Alter sehnsüchtig: „Sie war ein Sonntagskind, im ganzen Sinne des Wortes, zart, feinfühlig und vornehm“ (Rowohlt Monographie, Reinbek 1970, S.10).
Da die Witwenrente niedrig war, entschloss sich die Mutter zu ihren gut situierten Verwandten nach Braunschweig bzw. Wolfenbüttel zu ziehen. Der Großvater hatte ihr ein kleines Vermögen hinterlassen und auch die Brüder, von Beruf Richter bzw. Oberlehrer, unterstützten sie nach Kräften. Aber nicht nur die Verwandten schwärmten von der Mutter, sondern auch ganz neutrale Personen. Als die über 60zigjährige 1866 Sohn und Schwiegertochter in Stuttgart besuchte, beschwerte sich die Nachbarin: “Raabe, was haben Sie für eine schöne Mutter! Wie kommen Sie dazu, so eine schöne Mutter zu haben? (Monographie S.11).
In Wolfenbüttel wurde Wilhelm nach der Aufnahmeprüfung zum Gymnasium um 2 Schuljahre zurückgestuft. Er mühte sich, doch Erfolge blieben aus und dann blieb er auch noch einmal sitzen, so wurde er zum allgemeinen Gespött seiner 3 Jahre jüngeren Mitschüler. Er konnte lediglich mit seinen Zeichnungen und Aufsätzen Eindruck machen.Das Abitur wurde ihm verwehrt. Im Abgangszeugnis gab es nur zwei Belobigungen: „ Im deutschen Styl und im freien Handzeichnen hat er einen Grad der Vollkommenheit erlangt, wie es auf der Bildungsstufe, auf welcher er steht, nicht häufig ist“ (ebda. S.19).
Daraufhin beschloss 1849 der Familienrat Wilhelm zu einer Buchhändlerlehre nach Magdeburg zu schicken. Dort hatte er viel Zeit und seine Überlebensstrategie fand in einer wahren Lesewut ihren Ausdruck. Doch die Ausbildung schien ihn zu stupide und er brach zum Verdruss der Mutter die Lehre ab. Ein Jahr vagabundierte er in Wolfenbüttel herum, bis er sich entschied, sein Glück als Gasthörer an der Universität Berlin zu suchen. Als Untermieter nistete sich Wilhelm Raabe beim Schneider Wuttke in der Spreegasse ein. Im Winter fror der Gasthörer mächtig und floh häufig in die geheizten Hörsäle der Universität. Raabe erwies sich als Gehirnakrobat und hörte Vorlesungen der verschiedensten Fachgebiete. Freunde fand er nicht und so beobachtete er aufmerksam seine Umwelt. Dabei kam er auf die Idee, seine Beobachtungen niederzuschreiben. Das war der Beginn seiner schriftstellerischen Bemühungen. Er schrieb in der Studentenbude und in den Hörsälen. Der Beginn seiner schriftstellerischen Anstrengungen befreite ihn gleichzeitig aus seiner psychisch neurotischen Misere. Die therapeutische Wirkung des Schreibens war nicht zu übersehen: Er konnte zumindest vorübergehend seine Depression, seine Selbstzweifel und seine Überempfindlichkeit überwinden. 1854 begann er mit der „Chronik der Sperlingsgasse“ und beendete das Werk im Frühjahr 1855. 11/2 Jahre benötigte der Jungschriftsteller, bis er einen Verleger fand. Mit seinen 50 Talern Honorar kehrte er zu Muttern nach Wolfenbüttel zurück. Der Verkauf seines Erstlingswerkes verlief zunächst sehr schleppend und kaum einem Wolfenbütteler war das Werk bekannt. Das war allerdings kein Ausdruck der Ignoranz, da das Werk unter dem Pseudonym „Jakob Corvinus“ (ein Wortspiel mit dem lat. Begriff „Corvus“ = Rabe) versteckt war. Allmählich steigerten sich die Verkaufszahlen und der Autor wurde mit seinem tatsächlichen Namen bekannt. Doch waren zunächst nur die Kritiker begeistert und eine größere Nachfrage blieb aus. Die Auflagen steigerten sich erst ein Jahrzehnt später und steigerten sich bis zum Tode des Autors auf 70.000. (Heute nähern sich die Verkaufszahlen allmählich der Millionengrenze). Damals aber durfte auch die Mutter stolz auf ihren Sohn sein und die Honoratioren der Stadt nahmen von dem aufstrebenden Schriftsteller Notiz. Im Laufe der Jahre war der Erfolg des „literarischen Bilderbuches“ so groß, dass die Spreegasse offiziell am 100.Geburtstag des Dichters in die „Sperlingsgasse“ umbenannt wurde.
Mit seinem schriftstellerischen Erfolg endete auch die Einsamkeit des jungen Mannes. So fand er gleichaltrige Freunde, die ihn in den Bund „Kaffee“ aufnahmen und mit ihm eifrig diskutierten. Auch wirtschaftlich ging es bergauf. Der Herausgeber von Westermanns Monatsheften schloss mit Raabe einen Vertrag, der ihn verpflichtete, regelmäßig Beiträge für das Monatsmagazin zu schreiben. Seine literarischen Bemühungen nahm er 1856 wieder auf. Allerdings sollte die „Sperlingsgasse“ noch lange sein größter Erfolg bleiben.
Leben und Leiden nach der “Sperlingsgasse“
Die allgemeine Anerkennung und die steigenden Verkaufszahlen beflügelten den Jungautor. Die 6 Jahre in Wolfenbüttel waren die produktivsten in seiner Karriere (5 Romane, 13 Novellen usw.). Die Schriften waren allerdings weniger erfolgreich als die „Chronik“, denn der Autor musste sich aus wirtschaftlichen Gründen dem Diktat des Verlegers beugen, ohne dass die Zahl der Leser wesentlich stieg. Wirtschaftlich war Raabe aber durch den Arbeitsvertrag mit dem Westermann-Verlag einigermaßen abgesichert. Als spätere Schullektüre hat sich bei uns hauptsächlich aus dieser Schaffensperiode „Die schwarze Galeere“ eingeprägt.
1862 wagte Raabe den Sprung in die Ehe. Auch seine Braut Bertha Leiste nebst Verwandtschaft hat wohl diesen Spagat gutgeheißen. Das Paar, vor allem wohl der Bräutigam, sah dabei eine Zukunft in Stuttgart verheißungsvoller an als am Rande der Heide. Bertha musste allerdings durch die Heirat viele Einsschränkungen in Kauf nehmen. Die talentierte und Kultur beflissene Tochter aus gutbürgerlichen Hause flüchtete sich in eine überspannte Haushaltsführung. Dazu gehörte auch ein angemessener Wohnkomfort. Wilhelm wurde so stark unter Druck gesetzt, dass er auf hohe Absatzzahlen angewiesen war und den Publikumsgeschmack nur treffen konnte, wenn er die Gefühle und Wünsche der Leser befriedigte und so auf zu anspruchsvolle Lektüreangebote verzichtete musste. Die Württembergische Metropole galt als Kulturstadt und sehr schnell fanden sich dort auch Freunde. Besonders intensiv war die Bindung der Raabes an das Hosteiner Literatenpaar Jensen. Sie machten gemeinsam regelmäßig Ausflüge und Wanderungen. Zudem gestand Dr.Jensen, ein recht erfolgreicher Autor, dass er froh wäre, wenn er ein so guter Schriftsteller wie Wihelm sein könnte. Neben dieser Unterwerfungsgeste schätzte Raabe auch die Zuneigung von Jensens Ehefrau. Bilder beweisen, dass Wilhelm ein sehr attraktiver Mann war und daher wohl viele Frauen von ihm schwärmten. Die gegenseitige Zuneigung war nicht nur auf das Äußerliche beschränkt, sondern wurde vor allem durch gleiche künstlerische Neigungen hervorgerufen. So konnte Marie z.B. noch wesentlich besser zeichnen und malen als der auf diesem Gebiet durchaus talentierte Jungschriftsteller. 8 Jahre lebte die Familie in Stuttgart. Die bekanntesten Werke dieser Zeit waren „Elsa von der Tanne“(1864) und „Abu Telfan“(1867). Da die Jensens 1868 Stuttgart verließen, hatten die Raabes ihre besten Freunde verloren und auch literarisch blickte man nicht optimistisch in die Zukunft. Besonders Bertha sehnte sich zu den Verwandten in Braunschweig zurück. Am 17.07.1870 erfolgte der Umzug in die alte Heimat. Auch die Ängste vor räumlicher Nähe des dt.-frz. Krieges beschleunigten wohl die Entscheidung.
Die Hochkulturszene inmitten der Reichen und Prominenten hatten die Eheleute, vor allem Bertha, in Stuttgart sehr genossen, in Braunschweig erstarb fast gänzlich dieses Bedürfnis. (Bitte keine Rückschlüsse auf die damalige Qualität von Konzert und Schauspiel in Braunschweig ziehen!). Immerhin, die beiden älteren Töchter wurden in Braunschweig gut verheiratet. Vor allem litt Wilhelm 1874 sehr unter dem Tod seiner geliebten Mutter („Ich habe unendlich viel verloren!“ Vgl. Werner Fuld, Wilhelm Raabe, München 1993, S.266). Eine Freude war ihm in seiner Trauerzeit seine jüngste Tochter „Gertrud“. Sie war ein fröhliches Mädchen und ähnelte in vielem ihrer Großmutter. Scheinbar bei bester Gesundheit verstarb sie wohl an den Folgen einer Gehirnerschütterung 1892 im Alter von 16 Jahren. Der Vater litt abermals jahrelang unter diesem Verlust.
Zusammenfassend lässt sich über diese 10 Jahre sagen; Es war die Hölle! Das Braunschweiger Bildungsbürgertum betrachtete ihn als einen Gescheiterten, der nur noch im Stande war, unbedeutende Fortsetzungsgeschichten zu schreiben. Die Familie litt unter seiner Depression und Übellaunigkeit und ihn selbst quälte zudem häufig die Sehnsucht nach Marie Jensen. Nationale Aufmerksamkeit erlangte er in diesem 2. Braunschweiger Lebensabschnitt mit den Werken „Horacker“ (1876), „Krähenfelder Geschichten“(1879), „Pfisters Mühle“ (1884). „Das Odfeld“ (1888), „Die Akten des Vogelsangs“ (1896).
Obwohl Raabe ein recht schweigsamer Mann war, liebte er doch die Geselligkeit. An vielen Stammtischen war er ein gern gesehener Gast. Sein Wort galt etwas in den Tafelrunden. Aus dem übermütigen Geschwätz seiner Freunde hielt er sich aber eher heraus. Es wurde viel politisiert und auch nationalistische Töne waren nicht zu überhören. So gab es auch manche Kritik aus bürgerlich-aufklärerischen Kreisen. Diese empfanden die kritisierten Tischgesellschaften als zu philisterhaft. An diesem Urteil störte sich Raabe allerdings nicht. Gesellschaftlich anerkannt, aber literarisch nicht mehr allzu geschätzt, befand sich unser Autor in einer Krise und mit „Pfisters Mühle“ versuchte er einen Neuanfang. Er spielte mit den Erzählebenen und übte Kritik an den gesellschaftlichen Entwicklungen des prosperierenden Kapitalismus. Dies wurde zwar von einigen Literaturkritikern gelobt, aber von den Lesern nicht sonderlich geschätzt. Um die Verkaufzahlen zu erhöhen, fand er vorübergehend zum konventionellen Stil zurück. Diese Beschränkung empfand er allerdings weitgehend als Fronarbeit. Seine Neuerungen in dem Roman „Horacker“ sah er dagegen als richtungweisend an. Ende der 80ziger Jahre stellte sich allmählich Erfolg und Anerkennung ein. Zahlreiche Neuauflagen verbesserten zudem die finanzielle Situation der Familie. Im „Stopfkuchen“ polemisiert er nun ohne Rücksichtnahme und wendet sich auch gegen die Mittelmäßigkeit manch hochgeschätzter Schriftsteller wie z.B. Theodor Storm, Seine Kreativität schien erschöpft, doch raffte er sich noch einmal auf und verfasste sein modernstes Werk „Die Akten des Vogelsangs“, das nach Meinung vieler Kritiker das einzige deutsche Werk der europäischen Moderne um die Jahrhundertwende war. Da trotz aller Anerkennung die Kasse ziemlich leer war schrieb er noch einmal ein Werk im Sinne des allgemeinen Publikumsgeschmackes „Hastenbeck“ und nannte sich fortan „Schriftsteller A.D.“
Gerade nach diesem Abschied wurden ihm zahlreiche Ehrungen zuteil. Die Universitäten Göttingen und Tübingen ernannten ihn 1901 zum Ehrendoktor. 1910 wurde ihm dieser Titel auch von der Universität Berlin angetragen. Die zahlreichen Neuauflagen seiner Werke und die nicht unerheblichen Zinserträge aus der Mitgift seiner Ehefrau Bertha sicherten einen erträglichen Lebensabend. Am 15.11.1910 verstarb der lange unterschätzte Schriftsteller Wilhelm Raabe. Seine Ehefrau überlebte ihn um fast 3 Jahre. Möglicherweise wollte sie genau so alt werden wie ihr geliebter Gatte. Sie verpasste dieses Ziel aber um wenige Wochen.
So geht es wahrscheinlich auch heute noch vielen Pflegerinnen, dass sie ein wenig kürzer leben als ihre Betreuungsbedürftigen.
Wolfgang Schwarz