Hustvedt I
Siri Hustvedt, Was ich liebte, Reinbek 2003
Alle Literaturkreisteilnehmer waren uneingeschränkt fasziniert von diesem Roman!
Inhaltlich beeindruckte von allem der Tiefsinn, mit dem die Autorin die Charaktere der Hauptfiguren uns näher brachte. Ferner war der Text eine gute Einführung in die moderne Kunst mit überraschenden tiefenpsychologischen Erkenntnissen.
I.Die Hauptfiguren
Leo Hertzberg
Leo überzeugt als männlicher Ich-Erzähler. Da alle wussten, dass sich dahinter eine Frau verbirgt, waren die Sympathien ungeteilt.
Leo Hertzberg wurde 1930 als Sohn deutschstämmiger Juden in Berlin geboren. Bereits 1933 verließen die akademisch gebildeten Eltern Nazi-Deutschland. 1947 starb der Vater. Leo schaffte es, sich als ein angesehener Professor der Kunstgeschichte an einer der bedeutendsten Universitäten der USA (Columbia University) zu etablieren. Jahrzehnte war er mit der Kunstgeschichte verheiratet, dann kam er mit der Englisch-Dozentin Erica Stein überein, den Bund der Ehe zu schließen. 1977, also mit 47 Jahren wurde er Vater eines reizenden Knaben, Matthew. Die anfängliche Liebe der Ehepartner verblasste allmählich und vor allem die Liebe zum Sohn stabilisierte die Ehe. Nach dem frühen Tod des hochtalentierten Jungen wurden sich die Eheleute der Leere in ihrer Beziehung bewusst und jeder versuchte, sich mit seinen eigenen Interessen über Wasser zu halten.
Im Roman erleben wir Leo als überaus verständnisvollen Menschen, der klug, hilfsbereit und empathisch handelt. Seiner tiefen Vatergefühle wird er sich aber erst nach dem Tod seines 12jährigen Sohnes bewusst. Er bereut, dass er ihm seine tiefe Zuneigung nicht offen gezeigt hatte. Diesen Mangel versucht er später in seinem Verhältnis zu Mark zu kompensieren. Trotz aller Nachsicht gegenüber Mark, versucht er „klaren Kopf“ zu bewahren und handelt im Gegensatz zu Violet und Marks Mutter Ziel führend, um Mark vor dem endgültigen Absturz zu bewahren. Leo ist am Ende des Romans der Einzige der vier Freunde, der weiter in der Weltmetropole „New York“ verbleibt.
Erica
Erica, ebenfalls Tochter aus jüdischem Elternhaus, ist eine kluge und „treue Seele“. Sie verlangt nicht nach Liebesabenteuern und will auch nach der Trennung von Leo keine neue Partnerschaft. Ihre ganze Liebe gehört Sohn Matthew. Nach seinem Tod ist ihr der eigentliche Sinn ihres Daseins genommen. Es gelingt ihr nicht, das Trauma zu verarbeiten und da bei ihr die Arbeit in New York und die gemeinsame Wohnung immer wieder schmerzliche Erinnerungen an den toten Sohn wachrufen, sieht sie keine andere Möglichkeit, als die Stadt und Leo zu verlassen. Während ihrer Trauerarbeit ist Erica kränkelnd und unausgeglichen. So entscheidet sie sich, ein Angebot für eine Lehrtätigkeit an einer Elite-Universität in Kalifornien anzunehmen. Trotz guter Absichten vermag sie nicht, sich Leo erneut zu nähern und entscheidet sich für ein Single-Dasein im Sonnenland Kalifornien.
Matthew
Matt ist der ganze Stolz der Familie Hertzberg. Ihm gehört die Liebe der Eltern und er findet bei Gleichaltrigen und Erwachsenen viel Anerkennung. Er wurde am 12.03.1977 geboren und starb mit 12 Jahren bei einer Wildwassertour in einem Feriencamp. Die von ihm gemalten Bilder zeigen sein außerordentliches Talent, sowohl in kunsthandwerklicher Hinsicht als auch in ihrer Symbolkraft. Jeder, der Matt kannte, spürt den großen Verlust und leidet mit an der allzu früh zerstörten Hoffnung.
Bill
Bill Wechsler ist Sohn russischer Einwanderer. Früh entdeckt er die bildenden Künste für sein Leben als Sinn gebend. Er experimentiert und beschreitet neue Wege. Er gilt als ein bedeutender Vertreter der Postmoderne. Vor allem mit seiner Installationskunst erfährt er große Aufmerksamkeit. Wichtig ist ihm die Einbeziehung der Alltagsformen in die Kunst. Dazu bedient er sich ungewohnter Perspektiven, die zum Rätseln Anlass geben. (Als Bürger der Documenta - Stadt Kassel sind wir damit ja recht vertraut.) Bill ist ein leidenschaftlicher Mensch und so war es nicht verwunderlich, dass seine erste Ehe mit der eher rational veranlagten Lucille scheiterte.
Bill litt auch unter frühkindlichen Traumata. Sein psychisch behinderter Bruder wurde von seinem Vater eindeutig bevorzugt und so litt er früh unter fehlender Elternliebe.
Bei Violet fühlte er sich verstanden und geborgen. Auch in erotischer Hinsicht ist diese Verbindung für ihn sehr erfüllend. Seinen Sohn Mark aus erster Ehe liebt er sehr und will ihm geben, was er selbst als Kind nicht bekommen hat. Als er jedoch zusehend erkennt, dass sein Sohn ein Psychopath ist, verzweifelt er und verliert jede Hoffnung auf eine verständnis- und liebevolle Vater-Sohn-Beziehung. Er versucht, Mark zu verstehen, scheitert aber an seinem Versuch. Er wird allmählich ein gebrochener Mann, gibt sich dem Alkohol hin und leidet unter Depressionen. Sein früher Tod macht seinem Leiden ein Ende.
Lucille
Lucille entstammt einer Akademikerfamilie. Sie ist ein Verstandesmensch mit eingeschränkten Emotionen: Die Tochter eines Jura-Professors leidet darunter, dass sie nur über ein geringes Lustverlangen verfügt. So meidet sie nähere Kontakte, wirkt fast autistisch und ihre Gefühlskälte nutzt Violet, um ihr Bill auszuspannen, der schon lange unter ihrer Unfähigkeit, sich leidenschaftlichen Gefühlen hinzugeben, leidet. Allein die Vorfreude auf die Geburt ihres Sohnes Mark beflügelt sie zeitweise. Später aber bedeutet ihr der Sohn weit weniger als Bill und Violet. Obwohl sie Schriftstellerin ist, fehlt es ihr an Empathie. Sie verdrängt Marks Sadismus und seine Hinterhältigkeit. Jedoch spürt sie ihre Unfähigkeit, sich den Realitäten zu stellen und empfindet ihr Versagen als Mutter auch als eigene Schuld. Lucille ist sehr diszipliniert und weigert sich halbbewusst, sich einem Wunsch-Ich zu unterwerfen. Aber irgendwie sehnt sie sich nach einem Liebesabenteuer. So gibt sie sich vorübergehend dem Alkohol hin und versucht es auch einmal mit Leo. Doch allmählich lernt sie, ihre Liebesschwäche zu akzeptieren.
Violet
Violet Blom, Tochter skandinavischer Einwanderer, verkörpert ein Frauenideal. Sie ist attraktiv, offen für Andere, liebevoll, tolerant und zielorientiert. Sie erkennt Bills Nöte in der Ehe und ist bestrebt, Bill das zu geben, was er so sehr vermisst. Violet braucht sich deswegen nicht zu verstellen. Als Lebens erfahrene Frau kennt sie die Schwächen der Männer, gibt sich mit Freuden Bills Verlangen hin und verleiht ihm damit neue Lebenskraft. Das wirkt sich auch auf sein künstlerisches Schaffen aus. Violet ist nicht nur eine sinnliche, sondern auch eine kluge Frau. Sie schreibt sozialpsychologische Bücher über Wahnsinn und Multiple Ichs. Allerdings, ihr größter Wunsch. Mutter zu werden, geht nicht in Erfüllung. So versucht sie sich als Mutter bei Mark. Sie lebt einige Zeit diese Mutterliebe, verdrängt dabei, das Böse und Lügenhafte in Mark zu sehen. Doch als sie erkennt, dass alle Liebe und Verständnis nichts nützt, bricht sie mit ihrem Ziehsohn. Ihre Liebe zu Bill bleibt davon unberührt und auch nach dessen Tod, kann sie sich mit einer weniger leidenschaftlichen Liebe zu Leo nicht abfinden. Sie zieht daraus die Konsequenzen, und verlegt ihren Lebensmittelpunkt nach Paris.
Mark
Mark Wechsler, 1977 geboren, ist ein wieder auferstandener Felix Krull, ein Junge,
der es versteht, seine Mitmenschen zu täuschen und ihnen seine angeblich liebevolle Seite zu vermitteln. Aber er ist ein notorischer Lügner und bezüglich der Liebe und Erotik ein pathologischer Sadist, ein Krimineller, der vor nichts zurückschreckt. Bei Bill, Leo und Violet versteht er es immer wieder, sich als reumütiges Opfer darzustellen. Trotz schlimmer Untaten gelingt es ihm Dank des Hertzberg-Wechsler-Netzwerkes seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen und größere Bestrafungen zu entgehen.
II. Handlungsverlauf und Szenarien
Der etwa 70jährige Ich-Erzähler schreibt eine Künstlerbiographie über seinen engsten Freund Bill Wechsler. Er ruft Erinnerungen wach und versucht, dabei auch Klarheit über sein eigenes Ich zu gewinnen. Sein Sohn Matthew ist tot, seine Ehefrau Erica lebt schon lange von ihm getrennt, sein Freund Bill lebt nicht mehr und seine Freundinnen Lucille und Violet haben New York verlassen.
Der Erzählstrang beginnt mit der Trennung von Lucille und Bill. Die 27jährige Violet schreibt ihre Doktorarbeit über wahnsinnige Frauen. Lucille zieht mit ihrem Sohn Mark nach Texas. Die Ehe Bill und Lucille ist gerade geschieden. Mark erweist sich als schwieriges und gestörtes Kind und Lucille ist mit seiner Erziehung überfordert. So kehrt Mark zu Vater Bill und Violet nach New York zurück. Bill setzt sich mit einem neuen Kunstverständnis allmählich gegenüber der etablierten Kunstkritik durch. Violet vertieft sich weiter in die Problematik von Hysterie und Suggestion. Violet ist sein Modell und gleichzeitig seine Geliebte. Leo hat eine kurze Affäre mit Lucille, die gerade einen Selbstmordversuch zu verarbeiten hat und krampfhaft ihre Depressionen zu verdrängen versucht. Sie wünscht sich, Lieben zu können, doch Zärtlichkeiten reizen sie nicht und sie kann auch selbst keine geben. Wohl zum eigenen Erschrecken entdeckt sie ihren Hang zum Sadomasochismus.
Violet tut allen gut (Bill, Leo, Erica), sie ist aber traurig, als sie merkt, dass sie selbst keine Kinder bekommen kann. Matt zeichnet als 10Jähriger besser als seine Kunstlehrerin, während Mark überall aneckt und versagt. In einem Feriencamp verunglückt Matt bei einer Wildwasserfahrt tödlich. Damit werden die Eltern, Erica und Leo, nicht fertig. Bill und Violet versuche den Beiden zu helfen und beizustehen. Erica hält es in der Wohnung, in der sie mit Matt wohnte, nicht mehr aus und siedelt nach Kalifornien über. Leo und Erica beschließen, sich trotzdem nicht scheiden zu lassen. Mark behauptet, er vermisse Matt jeden Tag und Leo stellt ihm Matts Zimmer als Atelier und Schlafraum zur Verfügung. Allmählich aber erkennt Leo, dass Mark verlogen, hinterhältig, brutal und intrigant ist. Trotz beginnender Zweifel versucht Violet Mark eine gute Mutter zu sein. Leo und Violet entdecken, dass Mark, alle Bezugspersonen bestohlen hat und dass seine angebliche Empathie frei erfunden ist. Sie versuchen es mit einem Psychotherapeuten, aber Mark hat sich längst dem „Brutalo-Künstler“, Teddy Giles zugewandt und ist zu fast jedem Verbrechen bereit. Mark weiß von einem Verbrechen seines Mentors: Teddy hat einen Jungen aus Mordlust getötet. Mark verrät den Mörder, um seine eigene Haut zu retten. Bill hält seinen Kummer nicht mehr aus, wird zum Alkoholiker und stirbt an den körperlichen und psychischen Folgen. Violet und Leo versuchen mehrfach Mark zu retten, müssen aber kapitulieren. Violet entflieht New York, Leo erblindet allmählich und hat keine Hoffnung mehr auf eine bessere Zukunft.
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Neben den dramatischen Ereignissen erfährt der Leser zusätzlich so Manches über die moderne Kunst und ist beeindruckt vom Wissen der Autorin. Tragisch jedoch, dass alle Protagonisten in ihrer Suche nach Liebe und Glück scheitern. Zudem führt uns der Roman die Schattenseiten der menschlichen Existenz vor Augen.
Leo ist ein einfühlsamer Mann, findet aber nicht die Frau, mit der er eine glückliche
Beziehung aufbauen oder fortsetzen könnte. Sein Glaube an das Gute wird durch Mark und dessen sadomasochistische Umfeld nachhaltig erschüttert. Mark und Teddy sind nicht zu retten, und bei Erica, Lucille und Violet verdrängt ihr Fluchtverhalten nur die schlimmsten Depressionen. So vermögen sie wenigstens den Alltag einigermaßen meistern.
Der Roman zeigt die Strahlkraft des Bösen. Hoffnung macht uns der Text nicht und der heutige Terror verstärkt sogar noch die negative Weltsicht des Lesers. In der Kunst sind Tabubrüche oft die einzige Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu erlangen. Das liegt zu Einem an der Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit und zum anderen an der Übersättigung im Bereich des Ästhetischen und des Konsum- und Lustverhaltens.
Wenn, wie schon bei Freud behauptet, der Mensch tiefenpsychologisch auch im Amoralischen gefangen bleibt, dann dürfen wir uns keinen großen Hoffnungen mehr hingeben. Es scheint, als ob die positiven Charaktereigenschaften von Leo, Violet, Bill und Matthew sich nicht gegen das Böse behaupten können. Trotzdem sollten wir in der Aka uns weiter dem Schönen in Kunst und Literatur verpflichtet fühlen und an unseren Idealen festhalten.
Wolfgang Schwarz, der erste Monat 2017 ist in großer Kälte geschafft