Wanderlust und Pilgerernst

Rachel Joyce

Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry

Frankfurt 2013

Mit großer Begeisterung wandern wir in der Aka55plus jeden Freitag durch die schöne nordhessische Hügellandschaft. Obwohl wir dabei manchen Pilgerpfad kreuzen, sind wir uns gar nicht bewusst, dass im Mittelalter das Wandern in den Pilgerreisen seinen Ursprung hatte. Wir sehen natürlich im Gegensatz zu diesen Gottessuchern eher die Faszination des Gruppenerlebens und den Gesundheitsaspekt, aber auch das Befreiungsgefühl, das wir mit den Pilgerreisenden teilen.



Unsere Wanderungen sind zumeist Rundwege, die wir mit sadistischer Freude mächtig breit treten. Wir kennen nur Zwischenziele, während die Pilger auf das Ziel der Befreiung, ja Erlösung fokussiert sind. Wer an Fernwanderungen teilgenommen hat, spricht weniger von den Blasen, die er sich gelaufen, sondern eher von dem Loslösungsprozess, den er beim Fortschreiten und Erreichen des magischen Zieles erlebt hat. Das Gehen lässt Sorgen vergessen, wir erleben intensiv die Natur, so dass uns ein Gefühl des Schwebens überkommt. Das gilt für Aka-Wanderer wie auch für Pilgerreisende. Beide berechnen die bereits zurückgelegte Strecke und welche Entfernungen und Strapazen noch vor ihnen liegen. Wir kämpfen mit unserer Erschöpfung, den körperlichen Leiden und sehnen den Zielort herbei und glauben fest daran, irgendwann unser Ziel zu erreichen. Im Wesentlichen aber ist der Weg das Ziel. Ursprünglich begaben sich jene Gläubigen auf den Weg, die nichts mehr zu verlieren hatten und sich nur im Verband mit anderen Pilgern einigermaßen sicher fühlen konnten. Erlösung war ihre Triebkraft und die Chance dem Martyrium der Hölle zu entgehen. Auch heute begeben sich einige aus diesen Gründen auf den Jakobsweg, aber oft begleitet von Wanderern, die sich einer besonderen Herausforderung stellen wollen, ohne im eigentliche Sinne religiös zu sein. Oft geht es ihnen um Selbstfindung und Entschleunigung. Sie wollen etwas schaffen, was Millionen andere nicht schaffen würden. Zudem erfahren sie Freuden und Belastungen, die schon der homo erectus um Überleben zu können auf sich nahm. Wir kehren so zu den Ursprüngen der menschlichen Spezies zurück, entfliehen der technischen Vereinnahmung und den Bequemlichkeiten der Zivilisation. Nebenbei erleben wir viel bewusster die Schönheit der Natur.

Diese Überlegungen führten eine Teilnehmerin des Literaturkreises dahin, den Roman der britischen Schriftstellerin Rachel Joyce als Lektüre vorzuschlagen. Schon nach den ersten Seiten wurde uns klar, dass die Hauptfigur Harold eine Schuld abzutragen hatte und wohl auch der häuslichen Tristesse entfliehen wollte. Harold Fry, in seinem bisherigen Leben immer ein Geknechteter und Verdränger, wird Rentner ohne sich in diesem nicht fremdbestimmten Zustand zurechtzufinden. Er spürt, dass er bisher einfach so dahingelebt hat und klaglos ein freudloses Dasein akzeptierte. Die Ehe war trist und von gegenseitigen Schuldzuweisungen geprägt. Fast noch schlimmer empfand er seine Arbeit bei einer Brauerei. Vertrautheit und Verständnis fand  er nur bei der tüchtigen Buchhalterin Queenie, die  über viele Jahre von ihrem narzissistischen Chef gedemütigt wurde und häufig Harold bei seinem Firmenbesuchen begleiten musste. Glücklicherweise verunglückte Chef Napier fünf Jahre vor Harolds Verrentung tödlich.
 
Im 1.Kapitel des Romans erhält Harold von Queenie, die schon lange nicht mehr für die Brauerei arbeitet, einen Brief, in dem ihm mitgeteilt wird, dass sie unheilbar an Krebs erkrankt sei. Sie befinde sich jetzt in einem Hospiz an der schottischen Grenze, in Berwick. Harold und Maureen leben, wie es der Zufall so will, ganz im Süden, genau entgegengesetzt, in Kingsbridge, also ca. 1000 km oder englisch ausgedrückt 600 Meilen entfernt. Harold schreibt Oueenie ein förmliches Antwortschreiben und will dies prompt zum nächsten Briefkasten bringen. Doch er schafft es nicht, diesen nichts sagenden Brief einfach so einzustecken. Einem plötzlichen Impuls folgend, läuft er immer weiter bis ihn der Hunger quält und er in eine Tankstelle einkehrt. Dort erzählt er der Bedienung, einem jungen Mädchen, von der schweren Krebserkrankung seiner Arbeitskollegin. Diese wiederum behauptet, dass ihre Tante ebenfalls angeblich unheilbar an Krebs erkrankt war, sie aber trotz der schrecklichen Prognose immer an ihre Heilung geglaubt habe und so Dank einer höheren Macht tatsächlich gesundete. So entschließt sich Harold, ohne darüber nachzudenken, sich auf eine Pilgerreise zu Queenie zu begeben. Er teilt seinen Entschluss dem Hospiz telefonisch mit und prophezeit: „ich breche jetzt auf. Solange ich gehe, muss sie leben. Bitte sagen Sie ihr, dass ich sie diesmal nicht in Stich lassen werde.“ (Rachel Joyce, S. 28)            
Damit konstruiert die Autorin die erste Spannungskurve und der Leser fragt ungeduldig: „Was für eine Schuld hat Harold abzutragen?“
 
Harold startet seine Pilgerreise und erlebt damit zunächst die Leiden des ungeübten Wandersmann. Nebenbei erfahren wir, dass er eine schreckliche Kindheit erlebt hat. Der Vater war ein brutaler Säufer, die Mutter flüchtete nach wenigen Jahren, Mann und Kinder ihrem Schicksal überlassend, aus den Familienfängen. Durch den Vater fand er keinerlei Unterstützung und von seinen Mitschülern wurde der Zurückgelassene fürchterlich gemobbt. So wurde er ein Außenseiter, der sich in verschiedenen Berufen versuchte. Schließlich landete er bei einer Brauerei und hatte die Gaststätten zu betreuen. Einen gewissen Halt erfuhr er anfangs durch seine Ehe mit Maureen, die ihm zwar geistig überlegen war, ihn aber trotzdem liebte und wohl auch bei ihm ihr Helfersyndrom ausleben konnte. Allmählich sah in ihm aber wohl doch einen Versager. Erst die Geburt ihres Sohnes David stabilisierte vorübergehend die Ehe. Maureen gab sich völlig der Erziehung des Sohnes hin, gab ihm all ihre Liebe und durfte sich über die ansehnlichen Schulerfolge ihres Schutzbefohlenen freuen. Harold, der selbst nie elterliche Liebe erfahren hatte, konnte diese auch nicht sichtbar für Andere an seinen Sohn weitergeben. Bei einem Badeunfall wäre David fast ertrunken und Harold zögerte mit einem Rettungsversuch, was Maureen ihrem angetrauten Hasenfuß nie verzeihen konnte. Gott sei Dank, ein Rettungsschwimmer war noch rechtzeitig zur Stelle.

Harolds einziger Halt in der spannungsgeladenen Zeit war die tüchtige Buchhalterin Queenie, die ihm häufig bei den Inspektionen zu den Gaststätten begleitete. Auch Queenie war eine Außenseiterin und musste die häufigen Neidattacken des Chefs Mr. Napier ertragen.
 
Erst einige Tage nach dem Start der Pilgerreise wagt sich Harold, Maureen anzurufen und berichtet von seiner Absicht die todkranke Queenie aufzusuchen. Maureen ist entsetzt, hat aber in ihrem Nachbarn, dessen Ehefrau vor kurzem gestorben ist, eine tüchtige moralische Stütze. Trotz aller Qualen hält Harold durch und erregt allmählich öffentliches Interesse. Er begegnet hilfsbereiten Menschen, die ihm sogar Übernachtungsmöglichkeiten anbieten. So nimmt ihn z.B. eine slowakische Migrantin auf und der Leser denkt unwillkürlich: Mit den Beiden könnte es vielleicht noch etwas werden. Im berühmten Kurort Bath lernt Harold einen abgehalfterten Schauspieler kennen, der anderen den scheinbar Erfolgreichen vorspielt, selbst aber weiß, dass es mit ihm schon lange bergab gegangen ist, doch keine Möglichkeiten sieht, etwas Neues zu beginnen. Die Medien berichten über Harold. Maureen spürt erstmals in ihrer Beziehung Hochachtung für ihren Ehemann. Harold vertieft seine Selbst-reflexionen, sinniert über seine Ehe und vor allem über seine Beziehung zu seinem Sohn David. In Bath glaubt er sogar, ihn zu sehen, begreift aber, dass er nur einer Vision zum Opfer fiel. Der aufmerksame Leser erkennt jedoch, dass David alkoholabhängig war und zur Befriedigung seiner Sucht sogar die Mutter bestahl. Auch kommen Zweifel auf, dass David entgegen seiner eigenen Behauptungen sein Studium an der Universität Cambridge erfolgreich abgeschlossen hat.

Der Pilger Harold wird populär und immer mehr Mitläufer schließen sich zum Verdruss Harolds ihm an. Auch Maureen wird aktiv und reist Harold hinterher und will ihn zum Abbruch überreden. Sie erkennt jedoch, dass Harry eine doppelte Schuld abzutragen hat: einmal gegenüber Queenie und zum anderen gegenüber David. Kurz vor dem Ende des Romans erfahren wir aus einem Brief, den Harold an das Mädchen von der Tankstelle schreibt, dass David alkohol- und  drogenabhängig war und keinen Ausweg mehr sah, als seinem Leben mit einem Suizid ein Ende zu setzen. Diese Verzweifelungstat  ignorierte Maureen und hielt das Kinderzimmer des Sohnes für seine Rückkehr nach Hause weiterhin in Ordnung und führte angebliche Telefongespräche mit dem Sohn, von denen sie auch Harold berichtete. Zudem erfahren wir auch, dass Harold in die Brauerei eingebrochen war, um sich an seinem verhassten Chef Napier zu rächen. Er zertrümmerte die Porzellan- figurensammlung Napiers. Die Figuren waren ein Geschenk seiner Mutter, dem einzigen Menschen, den Napier jemals wirklich liebte. Queenie wollte Harold schützen und nahm die Schuld an der Zerstörung auf sich.

Harold trennt sich von der Pilgergruppe und diese läuft ohne ihn nach Berwick, wo sie von den Medien begeistert begrüßt wird. Allerdings werden die Mitläufer nicht ins Hospiz gelassen und nach 87 Tagen Wanderung trifft auch Harold im Klosterhospiz ein. Eine Nonne führt ihn zu der völlig vom Krebs zerfressenen Queenie. Sie kann nicht mehr sprechen und reagiert kaum noch auf ihre Umwelt. Harold drückt ihr die Hand und hat den Eindruck, dass sie diese Abschiedsgeste wahrgenommen hat. Maureen ist ebenfalls eingetroffen und es scheint, dass beide ihr Trauma verarbeitet haben und nun für ihre gegenseitige Liebe offen sind. Der Roman schließt mit den anrührenden Worten; „Ich liebe dich, Harold Fry,“ flüstert sie. Das hast du jedenfalls geschafft.“ (S.368) Ihr Sohn hatte sich für den Tod entschieden, sie aber wollten weiter leben und noch einmal glücklich werden. „Jetzt können wir gehen“, sagte Harold (S. 374)

Den Literaturkreisteilnehmern standen die Tränen in den Augen und freuten sich mit Maureen und Harold. Sie waren glücklich zu erfahren, dass Pilgern eine Chance ist, noch vor dem Tod mit sich ins Reine zu kommen.

Wolfgang Schwarz, im Advent 2016                  

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