Sand VII

George Sand, Jeanne, 1844 (München 1993)

Vorbemerkung:

Der Roman „Jeanne“ wird zwar häufig als Sands erster Versuch zur Konzipierung eines Dorfromans angesehen, doch scheint mir diese Einordnung nicht zutreffend. Zwar spielt die Handlung in einer ländlichen Region und einige Figuren wie Jeanne und ihre Tante stammen aus bäuerlichen Verhältnissen, doch die tragenden Dialoge werden im Adelsmilieu vorgetragen, in dem die „Heilige Jeanne“ eine dienende Rolle erfüllt. Auch wenn die Titelfigur als Heilige, Reine, Arbeitsame und Schöne auftritt und in ihrer Weltanschauung dem Aberglauben und einer schlichten, bäuerlichen Religionsauffassung huldigt, so bleibt doch immer ihre Einbindung in die Adels- und Bürgerwelt handlungsbestimmend. Nur in wenigen Abschnitten kann der Roman auch als eine bäuerliche Milieustudie verstanden werden.

 

Textwiedergabe:

Im Prolog treffen wir im Jahr 1816 drei junge Männer auf einer Wanderung durch eine trostlose, steinige Berglandschaft. Es handelt sich um die drei männlichen Hauptfiguren Baron Guillaume de Boussac, den steinreichen englischen Adligen Sir Arthur und den ruhmsüchtigen bürgerlichen Schwerenöter Marsillat. Sie entdecken auf dem Hügel das schlafende 14jährige Hirtenmädchen Jeanne. Sie sind von der Anmut der bäuerlichen Kleinen entzückt, und da das Mädchen sie nicht bemerkt, drücken sie der schlafenden Schönen drei Geldstücke in die Hand. Es ist die Schlüsselszene des Romans, da Jeanne glaubt, Feen, die Farblosen, hätten ihr im Schlaf zur Hilfe und zur Prüfung die Goldmünzen in die Hand gelegt.

Erst 7 Jahre später begegnen die abenteuerlustigen Männer der schönen, aber völlig ungebildeten Frau wieder.

Jeannes Mutter war gerade gestorben und der Blitzschlag hatte ihre Unterkunft abbrennen lassen. Da ihre Mutter auch Amme Guillaumes war, kam dieser, ihr Pate, zur Beerdigung, um der Vollwaisen zu helfen. Von Anfang an ist er fasziniert von der keuschen Schönen. Da Jeannes Tante das Hirtenmädchen nur ausbeuten will, nimmt der junge Baron sie mit auf seinen Gutshof, auf dem sie als Hirtin und Haushälterin arbeiten soll. So begegnet sie den Freundeskreis der Familie Boussac und die drei Wanderer erkennen sie als die schlafende Schöne wieder.

Der kluge Rechtsanwalt und Verführer Marsillat trifft Jeanne einige Male und versucht sie für ein erotisches Abenteuer zu gewinnen. Doch sie lässt den Herzensbrecher selbstbewusst abblitzen. Guillaume ist leidenschaftlich verliebt, will aber auch nur eine Geliebte und wegen des Klassen- und Bildungsunterschied keine feste Bindung. Nur Sir Arthur wirft alle Bedenken über Bord und macht der Unbedarften einen Heiratsantrag. Jeanne aber hatte aufgrund des Geldmünzen-Abenteuers einen starken Glauben an das Übernatürliche entwickelt und ein Gelübde abgelegt, dass sie ihre Liebe nur Gott schenken wolle, sie möchte sein wie ihr großes Vorbild die „Jungfrau von Orleans“. Sie verpflichtet sich zu Armut, Demut und Keuschheit. Daher lehnt sie auch den Heiratsantrag des schwerreichen Engländers ab. Doch keiner der drei Freunde gibt wirklich die Hoffnung auf. Das Keuschheitsgelübde wurmt vor allem Marsillat. Da Jeanne aufgrund einer Intrige den Hof verlassen will, bietet Marsillat seine Hilfe an und entführt die Edle in ein Turmgebäude eines seiner Landgüter. Durch einen Spitzel und Ganoven erfahren Guillaume und Sir Arthur von der Entführung und eilen, Jeanne zu befreien. Während des Tumultes bei der Befreiungsaktion gelingt es Jeanne unbemerkt aus dem Fenster des Turmes zu springen. Sie verletzt sich bei dem Sturz scheinbar schwer. Nach Tagen der Bewusstlosigkeit erwacht die Jungfrau und sie entdeckt die Liebe zu ihrem Retter Sir Arthur und der Leser freut sich bereits auf das Happy-End. Doch hat er nicht mit der List der Autorin gerechnet. Obwohl Jeannes Herzschlag funktioniert, äußerlich als geheilt gilt, erleidet sie einen Hirnschlag und stirbt.

Warum?

Warum lässt die vergnügungssüchtige Autorin das tapfere Hirtenmädchen so enden, statt sie ins eheliche Himmelreich zu führen?

Oberflächlich betrachtet mutet eine Heirat eines reichen englischen Adligen mit einer armen Unterschichtangehörigen und Analphabetin so unwahrscheinlich an, dass George wohl weder als eine Märchen- noch als Kitschromanschriftstellerin erscheinen möchte. Vor allem aber betrachtet die Autorin das Keuschheitsgelübde eher sozial-philosophisch. Denn gerade dieses Festhalten am Verzicht auf Sexualität und Mutterfreuden zeugt von Konsequenz und Prinzipientreue, die die besondere Identität der Hauptfigur ausmachen. Sie rückt daher tatsächlich in die Nähe der Heiligen Johanna. Diese literarische Aussageabsicht spiegelt zudem auch die Nöte der gerade 40jährigen Autorin wider. Mitte der vierziger Jahre des 19.Jahrhunderts verfügt George Sand über so viel erotische Erfahrung, dass sie auch die temporäre Unergiebigkeit dieser Triebstruktur erkennt und deshalb die unerotische Verbindung mit Chopin ertragen kann. Insofern stellt Jeanne auch ein Spiegelwunschbild der wissenden und erfahrenen Autorin dar. In dieser Zeit beschäftigt sich George viel mit Esoterik und den christlichen Prinzipien des Frühsozialismus und sehnt sich nicht unbedingt nach einer beglückenden Sexualität wie noch einige Jahre zuvor. Wahrscheinlich sieht sie auch aus der Erfahrung mit ihrer größten Liebe, die zu Alfred de Musset, die zerstörende Kraft der Sexualität. Keusche Bruderliebe ist stets für sie ein erstrebenswertes Ideal und sie bewundert Frauen, die Keuschheit als ein Mittel der weiblichen Selbstverwirklichung ansehen.

Jeanne verkörpert das Reine, Unschuldige und Geistige und lebt so in der Hoffnung auf das Gute und Göttliche im Menschen.

Sicherlich, die Realität, auch die weibliche, sieht anders aus und so war es für die Autorin am einfachsten, ihre Protagonistin nicht dieser verführerisch schmerzvollen Realität auszusetzen und sie lieber noch rechtzeitig sterben zu lassen.

Wolfgang Schwarz, 09.05.2016

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