Sand II

Genie und Wahnsinn

 

Das Herzzerreißende und Pathologische in der Liebesbeziehung von George Sand und Alfred de Musset

George Sand befand sich 1833, als sie den Dandy und hoch gelobten Poeten Alfred de Musset im Frühjahr kennen lernte, in einer psychisch relativ stabilen Lebensphase. Ihr erster eigenständiger Roman „Indiana“ war ein voller Erfolg, ihr zweiter „Lelia“ stand kurz vor der Veröffentlichung, die intensiven Gespräche mit der berühmten Schauspielerin Marie Dorval hatten ihr Selbstvertrauen und ihre Freiheitsliebe gestärkt und die Trennung von Jules Sandeau war verkraftet. In ihrem späteren Roman „Sie und Er“ stellt sie die Kennenlernphase und die Entwicklung der Liebe zu dem eigenwilligen Dichter ausführlich dar. Auch dort zeigt sich die Titelfigur „Thérèse“ als äußerlich gefestigte Persönlichkeit. Von Musset weiß sie, dass er sehr wankelmütig ist und seine Stimmungen augenblicklich von schwärmerischer Leidenschaft in cholerische Wutausbrüche umschlagen können. Deshalb ist sie zunächst vorsichtig, bleibt aber dem 6 Jahre jüngeren Genie durchaus wohl gesonnen, ist von seinem Verstand und seiner Kreativität überaus fasziniert. Auch kann sie sich der Ausstrahlung und Beredsamkeit des Schönlings nicht entziehen, zudem reizt sie der „Betreuungsfall Musset“, er weckt ihr ausgeprägtes Fürsorgebedürfnis, bei dem sich Erotisches und Mütterliches eindrucksvoll miteinander verbinden. Musset seinerseits fühlt sich von ihrem heiteren und liebevollen Wesen und natürlich auch von ihrer eigenwilligen Schönheit sehr angezogen.

 

Er ist ein verwöhntes Muttersöhnchen, galt schon in seiner Schulzeit als Genie, veröffentlichte noch vor seinem zwanzigsten Lebensjahr bewunderte Gedichte und erschien vielen als der auferstandene Lord Byron, ebenfalls ein revolutionärer Romantiker, Dandy und Lebemann. Schon früh wird er vom Alkohol und Opium abhängig. Sein Leben pendelt stets zwischen Euphorie und Depression. Die sinnliche Leidenschaft lebt er bei Grisetten und Kurtisanen aus, aber poetisch sucht er eigentlich nach tiefer Liebe und merkt immer wieder, dass er ein Gefangener seiner Begierden ist. Auch deshalb fühlt er sich so stark von George Sand angezogen, weil sie ihm alles zu geben verspricht. Wenn sie nicht zusammen sind, sehnt er sich nach ihr, doch bei längerem Beisammensein fängt er an, sich zu langweilen. Der „Borderliner“ verträgt ihre Abwesenheit nicht, kann aber auch ihren sehr disziplinierten Alltag nicht mit ihr teilen. Er ist spontan, gibt sich rauschhaft dem Augenblick hin, ist danach ernüchtert und sucht neue Reize. Besonders schwer fällt ihm, George Tagesrhythmus zu akzeptieren: Während für ihn die Nacht den Vergnügungen vorbehalten ist, braucht George Sand die ruhigen Nachtstunden zur Arbeit am Werk, zum Briefeschreiben und zur Planung des nächsten Tages. Damit dies gelingt, muss sie natürlich die Begierden des Liebhabers zügeln. So fühlt er sich erniedrigt und in seiner Manneswürde verletzt, bezeichnet sie als „Träumerin, Einfältige und Nonne, als Langeweile in Person.“ (Maurois, S.172). Trotzdem behauptet George im Rückblick, er sei der Mann gewesen, den sie am meisten liebte. Sie gewährte ihm größtmögliche Freiheit, die sie ja auch für sich beanspruchte. Da sie sich nicht ständig zur Verfügung stellen wollte, war sie damit einverstanden, dass ihr Geliebter sich bei Grisetten und Kurtisanen seine sexuelle Befriedigung holte. Dies ging sogar so weit, dass sie klaglos bereit war, die z. T. erheblichen Schulden, die Musset bei seinen Prostituierten anhäufte, zu begleichen. Nach außen stilisierte sie ihre Beziehung als eine Bruder-Schwester-Partnerschaft bzw. eine Mutter-Sohn-Beziehung. Doch diese Beziehungsregulierung ging über die Kräfte der Beiden. Unmittelbar nach der Trennung in Venedig schreibt George in einem Brief am 30.5.1834: „Lebwohl, leb wohl mein Engel, Gott schütze Dich, leite Dich und führe Dich eines Tages hierher zurück, wenn ich noch hier bin. Jedenfalls sehe ich Dich gewiss in den Ferien, und dann welche Freude! Wie gut wir lieben wollen! Nicht wahr, nicht wahr, mein kleiner Bruder, mein Kind?“ (Wien 1924, S.3).Und wenig später, am 14.04.1834 folgt: „Wenigstens wirst Du Dich in den Armen anderer Frauen meiner erinnern. Aber wenn Du allein sein wirst, wenn du das Bedürfnis hegen wirst, zu beten und zu weinen, so wirst Du an Deinen George denken, an Deinen wahren Kameraden, an Deine Krankenwärterin, an Deinen Freund, an etwas, das mehr ist als alles dies“ (S.7f).

Noch später bezeichnet Alfred ihre Beziehung wehleidig-ironisch als Inzest. Worauf ihn George aus Venedig antwortet: „Du hast reicht, unsere Umarmungen waren Inzest, aber wir wussten es nicht“ (Briefe, S.78). George war sich der Problematik ihrer Beziehung bewusst, konnte ihre Liebe zu Alfred aber nicht unterdrücken. So lässt sie sich nach längerem Zögern auf eine intime Beziehung zu ihrem „Herzensbruder“ ein.

In ihrem Roman „Sie und Er“ führt sie seine Ausfälle auf ein Nervenleiden zurück; sie möchte ihn beschützen. Jedenfalls leidet Musset häufig unter Halluzinationen. Beide beschreiben dies eindrucksvoll in ihren biographischen Romanen. Ängste und Wahnvorstellungen Mussets werden besonders bei einem nächtlichen Waldspaziergang deutlich. George Sand bezeichnet dies als Ende ihres gemeinsamen Glückes. Sechs Tage befanden sie sich im Paradies, tiefe Liebe wie im Rausch. Am 7.Tag folgt das Entsetzen. Im tiefen Wald verirrt, glaubt Alfred seinem betrunkenen Ebenbild zu begegnen und dreht dabei völlig durch. George vermutet dahinter sein Nervenleiden, sie kann nicht mehr, sie glaubt noch, den durch geknallten Geliebten verlassen zu können, erkennt aber gleichzeitig, wie sehr dieser auf Hilfe und liebevolle Zuwendung angewiesen ist. Bei ihrer Aussprache macht sie ihm klar, dass sie hilfsbereit sei, aber nicht auf Kosten ihrer Freiheit, schließlich gewähre sie ihm ja ohnehin ausreichend Freiräume. Sie betont, dass sie nicht eifersüchtig sei, wenn er zu seinen Kurtisanen gehe. Allerdings könne sie es nicht ertragen, wenn er von diesen zurückkehre, dass „sie ihm an Morgen nach einer Orgie auch noch auf die Stirn küssen solle“ (Sie und Er, S.83). beide spüren, dass sie am Abgrund stehen und so beschießen sie, um ihre Beziehung zu retten, im Februar 1834 nach Venedig zu reisen. George besteht allerdings darauf, weiterhin ihr zeitaufwendiges Arbeitspensum auch in der Lagunenstadt abzuleisten. Alfred dürfe während dieser Zeit durchaus seinen hemmungslosen Vergnügungen nachgehen. In Venedig leidet George anfangs unter leichten Fieberanfällen, dann trifft es Alfred aber weit heftiger. Er benötigt ärztliche Hilfe und George lernt so den feinsinnigen und treuherzigen Arzt Pagello kennen. Wenn sich zwei leicht entflammbare Menschen begegnen und sich die Eine auch noch in ihrem Glück betrogen fühlt, bleibt fast zwangsläufig eine entsprechende Reaktion nicht aus: Die beiden verlieben sich ineinander! Zwischen seinen Wahnvorstellungen und Fieberausbrüchen bekommt Musset davon Einiges mit und so führt es nach seiner Genesung zu Hassausbrüchen und heftigen Eifersuchtsszenen. Alfred reist am 29.3.1834 allein nach Genf. Doch die Sehnsucht nach George wird wieder unerträglich und auch sie spürt trotz aller Auseinandersetzungen noch Liebe zu ihm. Erfolglos versucht sie ihre Gefühle zu verdrängen und schreibt am 7.9. ein Bekenntnis (Briefe S. 103f): „Du liebst mich immer noch zu sehr, wir dürfen uns nicht mehr sehen … ja, es war wohl nur ein Traum, und ich allein, ich dummes Kind, hielt mich im guten Glauben daran … Adieu, mein armes Kind. Ah, wenn ich meine Kinder nicht hätte, würde ich mich mit Vergnügen in den nächsten Fluss stürzen!“

Anfang 1835 ziehen sie noch einmal zusammen, doch kann George die ständigen Eifersuchtsszenen nicht mehr ertragen. Sie leidet unter Selbstmordgedanken, zieht es aber doch vor, sich von dem Verursacher ihres Leidens für immer zu trennen. Sie hätte gern „ihren kranken Sohn“ beigestanden, aber es geht einfach nicht mehr.

Zwar billigt sie ihrem Geliebten eine schützenswerte Genialität zu, aber ihre Opferbereitschaft ist ausgereizt und auch Alfred scheint sich mit der endgültigen Trennung abzufinden. Doch noch am 1. Weihnachtstag 1835 schreibt die kleine, aber großmächtige George in ihr Tagebuch: „Wird meine Verzweifelung je von mir lassen? Ach! Jeden Tag nimmt sie zu, wie jenes Entsetzen vor der Einsamkeit, wie jenes Drängen meines Herzen, das Herz zu erreichen, das mir einst offen stand.“ (S. 83) und dann wieder die konkreten leidenschaftlichen Sehnsüchte: „Küsse mich, sage mir nichts, erörtern wir nicht; weil Du mich noch hübsch findest, trotz der abgeschnittenen Haare, trotz der zwei großen Falten, die sich neulich auf meinen Wangen bildeten.“ (S.84).

Beide arbeiten ihr Liebesdrama Monate, Jahre später literarisch auf.

In den „Bekenntnissen eines Kindes seiner Zeit“ versucht Musset das Schicksal der beiden Liebenden (Octave und Brigitte) in den Zeitzusammenhang, in den allgemeinen Niedergang Frankreichs und der Desorientierung der Jugend, einzuordnen. Insofern ist der Roman auch weitgehend als geschichtsphilosophisches Werk anzusehen. Allerdings geht der Autor dabei auch sehr selbstkritisch mit sich selbst um. Er beklagt seine Eifersucht und seine Hasstiraden, den Wechsel von Mord- und Suizidabsichten, bewundert Brigittes (George) Leidensfähigkeit und ihr Mitleid mit ihm selbst. Musset bedient sich im Abschiedsbrief Brigittes eines literarischen Tricks. Sie schreibt am 1. Weihnachtstag: „Wenn Sie diesen Brief erhalten, werde ich weit von Ihnen sein … Mein Geschick ist an das eines Mannes geknüpft, dem ich alles geopfert habe, ohne mich zu leben, ist für ihn unmöglich, und so will ich versuchen, für ihn zu sterben“ (Bekenntnisse … S.267). Octave, der vermeintlich Angesprochene, dreht den Brief um, und entdeckt folgende Anschrift: An Herrn Smith (dahinter verbirgt sich Pagello). Mit diesem Kunstgriff beschwört Musset die tragische Schicksalsgemeinschaft zwischen ihm und George Sand noch einmal herauf.

Aus dieser Umklammerung löst sich in George Sands Roman „Sie und Er“ Thérèse. Sie liebt zwar den Künstler, das Genie, und sieht in ihm das Kind, für das sie zu sorgen habe, aber sein neuro-pathologisches Verhalten ist so unerträglich, dass letztlich alle Liebe abgetötet wird. Sie ist nicht nur im metaphysischen Sinne seine Mutter, sondern auch im Realen und damit ist sie bei allem guten Willen hoffnungslos überfordert.

Der Schluss der Romans wirkt sehr konstruiert, greift aber die Muttermetapher wieder auf, denn die Hauptfigur, wie auch George selbst, steht für die Mutterliebe, die eigentliche Aufgabe der Frau und diese ist durchaus auch auf andere übertragbar, auf Enkel- und Adoptivkinder.

Die Widersprüchlichkeit des Menschen Musset in Bezug auf die Liebe möchte ich abschließend am Beispiel seines Poems „An Ninon“ verdeutlichen. Was für die Grisette Ninon geschrieben ist, könnte aus Mussets Sicht auch an George gerichtet sein.

Die erste Fassung ist die Übersetzung von Liselotte Ronte und Alfred Naumann (1925), die zweite stammt von Ernst Boesebeck, der das Gedicht während seiner Zeit als Besatzungssoldat 1941/42 verfasste. Es erschien 1952.

 

An Ninon

Und spräche ich zu dir: Ich liebe dich!

Wer weiß, blauäugige Frau, was du dann sagtest?

Du weißt, die Liebe quält uns jämmerlich

Und mitleidlos, dass du es selbst beklagtest;

Du weißt es wohl, und doch bestrafst du mich

 

Würd Ihnen ich, dass ich sie liebe, nun doch sagen

Wie würden Sie, blauäug`ge Frau, verhalten sich?

Die Liebe weckt, sie wissen, Schmerzen kaum zu tragen

Und leider ohn Erbarmen, die sie selbst beklagen

Indessen würden Sie vielleicht drum schelten mich.

 

Und noch die Schlussstrophe aus dem Prosagedicht „Heimkehr“:


Mich triebs, in deinem Blick die Seele zu versenken,

Und stürmisch jauchzt` ich auf – Denn oh, wie konnt ich denken

Dass gar so rasch, Madame, Ihr Herz erkühlt für mich...

 

Ein himmlischer Nachtrag folgt nächste Woche.

 

Wolfgang Schwarz, 11. Februar 2016