Nachlese zu: Stefan Zweig IV

Der Roman „Ungeduld des Herzens“, ein Puzzelspiel

Vorbemerkung:

Stefan Zweig hat so viel geschrieben, psychologisch tiefgründig, stilvoll, brillant erzählt, und alles wird letztlich zur Geschichte, ob Novelle oder Biographie. Merkwürdigerweise aber findet sich in seinem umfangreichen Werk nur ein veröffentlichter Roman. Diesen möchte ich dem illustren Kreis der Aka55plus nacherzählend und gelinde kommentierend nahe bringen. Der Roman „Ungeduld des Herzens“ lässt sich gattungsspezifisch nicht eindeutig zuordnen. Zwar rechtfertigt sein Umfang alleine schon die Bezeichnung Roman (über 450 Seiten), aber inhaltlich entspricht er doch eher einer opulenten Novelle. Das Besondere wird moralphilosophisch anschaulich zum Ausdruck gebracht. Die Leitthematik verfestigt sich in der Frage, ist Mitleid eine Form der Liebe oder eher die Überblendung einer solchen, Trugbild oder wahre Liebe, Novelle im Goethischen Sinne als eine „unerhörte Begebenheit“? Andererseits ordnet sich die Geschichte durch die Fokussierung auf die psychologischen Aspekte in die Tradition des psychologischen Romans ein, wie er in der deutschen Literatur durch Karl Philipp Moritz „Anton Reiser“ (1785 – 1790) begründet wurde.

 

Nacherzählung:

Es gibt Menschen, die sind so bedeutungslos, dass sie all ihren Bekanntschaften das Signum des Großartigen verleihen möchten. In deren Widerschein bewegen sie sich, reden in einem fort von Lichtgestalten, die man selbst eigentlich gar nicht kennen lernen will. Im kaiserlichen Österreich nannte man solche Typen „Freund Adabu“. Ausgerechnet ein solch lästiger Zeitgenosse macht den Ich-Erzähler auf den „Helden“ des Erzählwerks aufmerksam: Es ist der ordenbehängte Rittmeister Anton Hofmiller. Bei der Wiederbegegnung mit dem Ich-Erzähler vermittelt uns dieser tragische Held seine Lebenskatastrophe. So entsteht auf raffinierte Weise ein Doppel-Ich von Ich-Erzähler und erzählend tragischem Helden.

Ein kleines Garnisionsstädtchen im fernen, weltvergessenem Galizien ist der verordnete Aufenthaltsort des Kavallerieoffiziers Hofmiller, Sohn einer Beamtenfamilie ohne große Perspektiven. Dort begegnet diese müde Gestalt der schönen, lebensfrohen Nichte des steinreichen Herren von Kekesfalva und schon pulsiert das junge Herz in ungeahnter Weise. Wir schreiben das Jahr 1913, also die noch beschauliche Zeit vor Beginn des 1.Weltkrieges. Bald tanzt und speist der 25jährige Offizier mit der feschen Ilona. Zu Tisch sitzt er zwischen Ilona und der 17jährigen Tochter des Hauses „Edith“. Ein Leutnant weiß, was sich gehört, und fordert auch Edith zum Tanz auf. Doch da er nur Augen für die muntere Cousine hatte, übersieht er, dass Edith verkrüppelte Beine hat und deshalb auch nicht in Walzerherrlichkeit über die Tanzfläche schweben kann - welch eine Blamage! Der betroffene Anton verlässt fluchtartig das Schlösschen. Für sein letztes Geld schickt er einen ansehnlichen Blumenstrauß und bittet um Verzeihung. Edith von Kekesfalva zeigt sich nachsichtig und lädt den unglücklichen Tölpel zur Rehabilitation erneut ein. Hofmiller spürt tiefes Mitleid, aber keine Liebe. Liebe gilt nach wie vor nur Ilona, die aber, wie er später erfahren wird, sich schon einem Anderen versprochen hat. Er fühlt also nur Mitleid, doch Edith, die Spätpubertierende, liebt ihn abgöttisch. Sie verflucht ihr Schicksal, was sich in unkontrollierten Gewaltäußerungen offenbart. Der Vater, ein schuldbeladener Jude, freut sich über die Liebe und die damit verbundene Ausgelassenheit der Tochter. Hofmiller wird euphorisch, sucht die Nähe zu Ilona und Edith, spürt das Geliebtwerden, empfindet Macht, aber auch den Druck der Erwartungen und die Schuld, das junge verkrüppelte Mädchen nicht zu lieben, und trotzdem immer wieder ihre Nähe zu suchen. Ist er überhaupt noch frei?

Schuld und Sühne sind zunächst noch nicht das Problem des wackeren Leutnants, sondern des Vaters, des Herren von Kekesfalva. Dieser, ein jüdischer Händler und Trickbetrüger, hatte sich Titel und Gut ergaunert, indem er der unwissenden Erbin des Vermögens das Gut zu einem lächerlichen Preis abkaufte. Allerdings spürt er bald Reue und trägt der Übervorteilten die Ehe an. So wird aus dem Schurken ein reicher Gutsbesitzer und ein liebender Ehemann. Doch damit war die Tat noch nicht gesühnt, der Allgerechte ließ die geliebte Ehefrau nach kurzer Ehe sterben und die 5jährige Tochter Edith wurde durch eine unbekannte Muskelerkrankung zu einem gehbehinderten Krüppel. So blieb Hoffnung des alten Herren einziger Lebensdrang. Ein berühmter Arzt diagnostizierte eine noch-nicht-heilbare Erkrankung des Mädchens, wollte aber alles tun, um die Unheilbarkeit zu beenden. Er philosophiert, dass man als Arzt sich zwar in einer Sackgasse befinden kann, aber trotzdem die Hoffnung nicht aufgeben darf. Ein Arzt müsse Mitleid empfinden können, aber nicht der Ungeduld des Herzens verfallen. Mitleid müsse sich am Machbaren orientieren, nur das ist schöpferisch. Er ernennt den feinfühligen Leutnant zu seinem Experimentator, dieser solle Edith das Gefühl geben, von ihm geliebt zu werden, damit die so gewonnene Lebensfreude zur Heilung beiträgt. Eigentlich wünscht er sich aber, dass Hofmiller Edith wirklich lieben würde, dann wären seine Hoffnungen weitaus größer.

Die Spätpubertierende liebt leidenschaftlich, liebt besitzergreifend. Bei einem Abschied reißt sie den unbedarften Anton wild an sich und küsst ihn mit voller Hingabe. Der halbwegs schmucke Leutnant erschrickt, fühlt seine Verantwortung für die Gesundheit des Mädchens und möchte fliehen, den Dienst quittieren. Sie will alles, er vermag im Moment nichts wahrhaft zu geben. Seine letzte Hoffnung ist Dr. Condor, den er mitverantwortlich hält für seine “schwarze Liebe“. Der Arzt hatte schließlich selbst aus Mitleid eine Patientin geheiratet, der er nicht helfen konnte und die trotz seiner Therapie erblindete. Doch sein Mitleid beruhte auf echter Liebe. Dr. Condor möchte den Offizier in die Pflicht nehmen, denn Flucht bedeute eiskalter Mord. Edith spürt, dass Anton Hofmiller sie nicht liebt. Im letzten Moment macht er ihr ein Angebot, wenn sie die von Dr. Condor vorgeschlagene Kur mache, wird er ihr die Ehe antragen. Zur Bekräftigung fordert Edith die Verlobung und steckt ihm einen Verlobungsring auf. Der Leutnant fühlt sich wie Gott. Doch dann kommen wieder die schrecklichen Zweifel, er fürchtet Hohn und Spott der Kameraden: „Verlobt mit einem Krüppel, einer Halbjüdin!“

Der feige Leutnant versteckt den Verlobungsring (ein Leitsymbol wie bei vielen Novellen). Er will sich nicht offen bekennen, die Informanten übermitteln seine Feigheit an Edith und das impulsive Mädchen stürzt sich in den Tod. Er hatte gehofft, der Aufdeckung des Verrats noch zuvor kommen zu können, kam aber zu spät und bei der Todesnachricht hat er zum ersten Mal das Gefühl, Edith wirklich zu lieben. Er fühlt sich schuldig und stürzt sich in lebensgefährliche Abenteuer im beginnenden 1.Weltkrieg. Er sucht den Tod, doch er erhält stattdessen für seine suizidalen Taten zahlreiche Orden. Um ihn herum wird er Zeuge massenhaften Sterbens, doch er überlebt den Krieg. Noch 10 Jahre später schämt er sich seiner, doch Sühne wird ihm nicht zuteil.

Nachtrag:

In diesem Roman ist ein abstrakt-autobiographischer Bezug augenfällig. Besonders Friederike Zweig als Nachlassverwalterin hob dies vehement hervor. Sie glaubte viele Gemeinsamkeiten zwischen Edith und Lotte Altmann zu erkennen. Zweigs zweite Frau war sehr sensibel und starken emotionalen Schwankungen unterworfen. Friederike unterstellte ihrem Ex, dass er bei Lotte seinen Beschützerinstinkt ausleben wollte und sie letztlich nur aus falsch verstandenem Mitleid geheiratet hätte. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Zweig selbst auch unter Depressionen litt und dass der Doppelselbstmord von beiden gewollt war und nicht wie bei Romeo und Julia quasi aus Versehen geschah. Mitleid und Selbstmitleid lassen sich aber oft analytisch nicht leicht auseinander halten. Sicher zeigt aber dieser Roman, wie sehr sich Stefan Zweig bereits 1938 intensiv mit dem Thema „Freitod“ beschäftigt hat und auch schon früher in seinem 1934 abgebrochenen Roman „Rausch der Verwandlung“ thematisierte.

Auch eine moraltheologische Deutung drängt sich auf. So lässt sich das geschäftliche und private Verhalten des Herren von Kekesfalva als sündhaft deuten. Gesühnt wurde dies seiner Meinung nach durch die körperliche Behinderung seiner geliebten Tochter. Mit ihrem Suizid wiederum sühnte Edith auch das väterliche Fehlverhalten, wobei natürlich aber besonders Anton Hofmiller die Schuld aufgebürdet wurde. Der Roman dokumentiert Reue und Schuld, das Sühneverhalten des jungen Offiziers war nicht erfolgreich, zumal Sühne Schuld ja nie aufheben kann, wie es vielleicht eine übergeordnete Macht könnte. Der Verrat bleibt als Makel, und Erlösung ist nicht zu erwarten. Für Hofmiller spricht natürlich, dass er sich schuldig fühlt und dass sich bei ihm im letzten Moment Mitleid in Liebe wandelt. Vorbildlich ist in diesem Zusammenhang die Figur des Dr. Condor, ihm bedeutet Menschlichkeit mehr als beruflicher Erfolg. Er heiratet seine erblindete Patientin aus Mitleid und echter Liebe.


Wolfgang Schwarz, 15.07.2015