Patrick Modiano: Im Café der verlorenen Jugend (II)


Kampf um die Bedeutungshoheit

1. Versuch: 


Literaturgeschichtlich dürfte die Vermutung, dass sich Modiano von Henri Murgers Roman „Szenen aus dem Leben der Bohème“ anregen ließ, nicht unbegründet zu sein. Roland ähnelt dem Puccini-Rodolfo und Mimi (eigentlich Lucia) erlebt eine tuberkulosefreie Wiedergeburt in Louki. Auch das örtliche Umfeld ist ja das gleiche. Am Ende beider Romane steht der Tod der weiblichen Hauptfigur und ein zutiefst unglücklicher Geliebter bleibt allein gelassen zurück.
Mehr als das historische Vorbild verdienen aber die epischen Formexperimente Beachtung. Viele Autoren scheuen sich, als Erzählform die Ich-Form zu wählen, da sie lieber über die subjektiv begrenzte Darstellungsweise hinausgehen möchten. Andererseits wird beim Leser der allwissende Erzähler oft als zu selbstherrlich angesehen. Er will häufig belehren und wird so Opfer seiner eigenen Selbst-verehrung. Der moderne Leser möchte lieber mitdenken und sich seinen eigenen Spekulationen hingeben, als alles vorgesetzt zu bekommen. Inswofern ist es von Modiano ein raffinierter Schachzug, gleich vier Ich-Erzähler zu Wort kommen zu lassen.


Der eigentliche Grund dürfte beim Nobelpreisträger aber sein, dass er gerne eine neue epische Großform kreieren möchte: den Recherche-Roman. Diese Form ist zwar nicht ganz neu, und wir kennen sie bereits von Walter Jens, „Der Mann, der nicht alt werden wollte“. Aber Modiano geht über das biographische Anliegen hinaus, er möchte nicht nur „Polyperspektivik“ (H.Kraft) erreichen, sondern ihm geht es um eine spezifische historische Spurenlese. Vor allem ist es ihm wichtig, an die durch die faschistische Gräuel ermordeten Juden zu erinnern, gerade die einfachen Bürger liegen ihm am Herzen. Sie sollen nicht dem Vergessen anheim fallen und so setzt er einigen einen „literarischen Stolperstein“.
Dazu bedarf es einer anstrengenden Recherche-Arbeit, gerade wenn noch Zeit-zeugen gefunden werden sollen. Im Falle des „Café der verlorenen Jugend“ möchte er nicht nur um die Erinnerung des tragischen Schicksals der deportierten französischen Juden wach halten, sondern generell geht es ihm um die vergessenen tragisch - menschlichen Schicksale. So bestehen auch Parallelen zu Walter Jens: Beide Hauptfiguren, Karl Heydenreich und Louki begehen Suizid.
Zwar erscheint es dem Autor wichtig, in dem Milieu-Roman auch die notwendige Recherche darzustellen, aber sie wird längst nicht so ausführlich beschrieben wie in seinem Roman „Dora Bruder“, der 1997 erschien. Dort versucht der Ich-Erzähler das Schicksal der nach Auschwitz deportieren 16jährigen Dora nachzuzeichnen. Da in diesem Roman die eigentliche Recherche nicht sonderlich erfolgreich war (Modiano hat 10 Jahre versucht, die Fakten zusammenzutragen), werden viele Aspekte dieser Recherchen auf Louki übertragen.
In „Dora Bruder“ erläutert Modiano ausführlicher seine Theorie des „Erinnern“. Eine Photographie aus der eigenen Kindheit hält auch die besonderen Umstände seiner Entstehung fest: „Der dicke Photograph mit der körnigen Nase und der runden Brille“ (Modiano, Dora Bruder, München 2013, S.8). Das archäologische Aufspüren verloren geglaubten Lebens sieht er als seine Lebensaufgabe an: „Es dauert lange, bis das, was ausgelöscht worden ist, wieder ans Licht kommt“ (Dora, S.13). Dabei weist er auf die Schwierigkeiten hin, die besonders mit seinem Anliegen verbunden sind, dass gerade die kleinen Leute so wenig Spuren hinterlassen haben (S.29).
Auf die 15jährige Heldin seines Recherche-Romans stößt er bei der Lektüre einer archivierten Zeitung vom 31.12.1941. Dort befindet sich die Vermisstenanzeige von Dora Bruder (S. 8). In der Folge versucht er 10 Jahre lang Näheres über die flüchtige jüdische Tochter einer Arbeiter-Familie zu erfahren. Abgesehen von den sachlich-amtlichen Dokumenten vertiefen nur die Aussagen einer überlebenden Cousine das Bild von der aufmüpfigen Dora. So werden im Roman zwar ausführlich die Örtlichkeiten, in denen Dora verkehrt hat und mögliche Zeitgenossen beschrieben, aber von der Person Dora Bruder erfahren wir doch ziemlich wenig. Allerdings fällt auf, dass sie wie Louki ein starkes Bedürfnis antreibt: das Weglaufen von Zuhause. Da sie häufig aufgegriffen wird, schlägt die zuständige Behörde vor, sie dauerhaft in eine Anstalt unterzubringen (17.6.1942). Dabei muss natürlich berücksichtigt werden, dass jüdische Mädchen immer latent von einer Deportation bedroht waren. Das Fluchtmotiv stellt Modiano bei Louki und Dora als eine rauschhafte Erfahrung dar. Dies gilt übrigens auch für ihn selbst, der seine Jugendzeit beschwört: „Ich erinnere mich an den starken Eindruck, den ich beim Weglaufen 1960 verspürte“ (Dora… S.80) und weiter deutet er dies: „Das Weglaufen –so scheint es- ist ein Hilferuf und mitunter eine Art Selbstmord“ (S.81). Die Bezüge zu Louki scheinen eindeutig!
Im Literaturkreis wurde beklagt, dass der Autor mit zusätzlichen Fakten zur Motivlage der Ausbrecherin Louki geizt, so dass für uns der Suizid kaum nachvollziehbar ist.
Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass sich Modiano bewusst auf die Wiedergabe von Fakten beschränkt, die er durch gründliche Recherche gewonnen hat. Dahinter könnte ein philosophischer Anspruch im Sinne des Realismus stecken, dann wäre der Autor auch als ein Anhänger Ludwig Wittgenstein anzusehen. Im „Tractatus logico philosophicus“ (London 1921) schließt der österreichische Philosoph seine Abhandlung mit den Worten: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, d.h. sprechen können wir eigentlich nur über Fakten oder wie Wittgenstein es im § 1 des Traktats ausdrückt: „ Die Welt ist alles , was der Fall ist.“
Wir, der Literaturkreis, erwarten von der Literatur natürlich mehr, wir wollen Material, über das wir trefflich tiefenpsychologisch spekulieren können. Deshalb folgt jetzt die Hauptthese: „Alle lieben Louki, nur sie sich selbst nicht!“
Alle im Roman erwähnten Figuren empfinden Louki als eine aparte, zurückhaltende Person, die man einfach lieben, achten und beschützen muss. Ihr Kindheitstrauma, der fehlende Vater, die lieblose Mutter, geringe Außenkontakte und Anerkennung, stehen einer positiven Entwicklung natürlich im Wege, aber ihr Auftreten in der Szene zeigt, dass sie keine Verhaltensstörungen aufweist und sich Zuneigung zu verschaffen versteht. Sie hat wohl Bindungsängste und vergleicht sich in dieser Beziehung mit ihrer Mutter, der es auch schwer fiel, positive Gefühle zu erwidern. Diesem Mangel versucht sie durch die Flucht zu begegnen. Zu diesem Verhaltens-muster gehört auch das Abdriften in die Drogen- und Alkoholszene. Flucht ist nicht nur eine Fortbewegung, sondern auch Ausdruck eines Wunsches nach Heimat, Glück und Geborgenheit. Wenn sich dies aber als Illusion erweist, entsteht das Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit. Genau dieses Empfinden scheint Modiano Louki zuzu-schreiben. Dem Leser aber kommen Zweifel: Hat sie doch mit Roland einen liebe- und verständnisvollen Partner gefunden, erfährt auch sonst Zuneigung und Aner-kennung bei so vielen Menschen? Wir räumen ein: Vielleicht vermag sie einfach nicht glücklich sein, sieht ein, dass eine Flucht sie nicht mehr befreien kann, dass sie einfach nur Leere in sich empfindet. Das bedeutet letztlich Selbstaufgabe. Aber warum ist ihr das alles äußerlich nicht anzumerken? Ist sie eine perfekte Schauspielerin, die meisterhaft ihre Depression, ihr Burn-out zu verbergen weiß?
Tatsache ist, dass wir solche Abwärtsentwicklungen häufig gar nicht mitbekommen und dann, wenn das Schreckliche geschehen ist, mit Unverständnis reagieren. Vielleicht ist es das, was uns Modiano sagen will? In der Literatur fehlen oft diese blinden Flecke, aber ist das nicht nur eine intelligente Täuschung? Modiano unternimmt erst gar nicht solche Versuche und bringt somit auch mit unsere Lesegewohnheiten durcheinander. Aber vielleicht ist er auch nur ein eifriger Leser gewesen, ein Schüler Camus und damit selbst ein Vertreter des Existentialismus?

Wolfgang Schwarz, 07. Mai 2015

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