Ungebührliche Vorbemerkungen zu:
Patrick Modiano, Café der verlorenen Jugend
Alle 14 Tage finden wir uns zum Literaturkreis im aka -Treff ein. Wir, das sind
10 – 15 Personen mit grauen oder nachsichtig gefärbten Haaren. Was mag nur all die netten Menschen bewegen, sich der Literatur im Allgemeinen und der Hochkultur im Besonderen zur verschreiben?
Ich habe nachgedacht (tut ab und zu auch ganz gut) und habe in der Hauptsache drei Gründe gefunden, die allerdings bei genauer Betrachtung alle auf das Eine hinauslaufen.
1. Wir wollen der Langeweile unserer Alltäglichkeit entfliehen, also lesen wir und dann sprechen wir auch noch über das Gelesene. Das ist vielleicht das probateste Mittel gegen die fast unbemerkt eingeschlichene Sinnlosigkeit unseres Seins.
2. Eine andere Spezies treibt die Liebe zur Literatur und zum Leben in die weit-
geöffneten Arme der Belesenheitskultur. Das ist die idealistische Sichtweise.
Man könnte diese Motivlage im Freud´schen Sinne als höchste Form der
Sublimierung der Langeweile bezeichnen.
3. Die schweigende Mehrheit der Leser sind verhinderte Poeten, Dichter oder
bescheidener ausgedrückt: Schriftsteller.
Als solche fragen wir uns natürlich, was haben wir falsch gemacht. Warum er oder sie und nicht wir oder ich? Das Nobelpreiskomitee hat sich mal wieder an uns vorbei entschieden. Diesmal traf es Patrick Modiano. Was hat er nur anders gemacht als wir, die übergangenen Textverbreiter?
Wir sitzen also um 10.00 Uhr im aka-Treff und sprechen über „Das Café der verlorenen Jugend“. Wir sprechen nicht etwa über uns, sondern von einem Autor, von dem wir bis vor kurzem noch nie etwas gehört, geschweige denn gelesen hatten.
Wir sind nicht neidisch, sondern gespannt, wir wollen noch etwas lernen und freuen uns, wenn wir noch etwas draufpacken können. Die literaturpäpstliche Entscheidung ist gefallen und wir schicken uns darein. (Ich frage mich natürlich, warum hat z.B. Loriot nie den Preis erhalten, obwohl er doch so alt geworden ist? - Während ich hier sitze. Erreicht mich gerade eine Eilmeldung der Akademie für skurrilen Humor: Ein V-Mann aus dem Nobelpreiskomitee hat unter dem Sigel der Verschwiegenheit gerade mitgeteilt, dass der intern 2012 gefasste Beschluss, wegen der Lese- und Beurteilungsbelastung die Preisträger nur noch unter dem Anfangsbuchstaben „M“ auszuwählen aufgehoben wurde – 2012 Mo Yan, 2013 Munro, 2014 Modiano. 2015 ist also damit zu rechnen, dass dann der Ausgelobte nicht mit „M“ anfange, es sei denn Altbestände müssten noch aufgearbeitet werden. Egal, für Loriot kommt diese Freigabe zu spät. Da er leider schon verstorben ist.)
Kommen wir wieder zum Ernst der Dinge, zur ersten Kommentierung des Gesamteindruckes: Der Roman erscheint trotz seiner sinnlichen Atmosphäre ziemlich „kopflastig“. Zum einem liegen seiner Konzeption Literaturtheoretische und realbiographische und zum anderen philosophische Überlegungen zugrunde.
Für uns war es zunächst verwirrend, das wir es gleich mit vier Ich-Erzählern zu tun bekamen.
Im Grunde entsprechen die gewählten Erzählformen aber den Erfordernissen gewissenhafter biographischer Recherche-Arbeit. Eine Biographie versucht ja aus verschiedenen Perspektiven unterschiedliche Informationen zu sammeln, um eine realistische Charakter- und Lebenslaufstudie zusammenzubasteln. In Modianos Roman wird das Datenmaterial von 4 Zeitzeugen zusammengetragen, um ein Gesamtbild von der Hauptfigur Jacqueline Delanque, genannt Louki, zu gewinnen.
Beginnen wir also mit dem ersten Informanten, dem ersten Kapitel, mit dem geheimnisvollen Unbekannten.
1. Beobachtungen eines Anonymen
Der Roman zeichnet den Weg der jungen Frau „Louki“ nach, die sich aus den Fesseln
ihres Milieus und ihrer Person zu befeien versucht. Das Werk ist in 5 Kapitel eingeteilt. In den ersten vier geben vier Ich-Erzähler ihre Informationen preis und im fünften Kapitel treten noch einmal alle auf und erleben gemeinsam den tragischen Schluss. Das gesamte Werk könnte man auch als ein „Requiem für eine Selbst-mörderin“ betiteln.
Der erste Informant ist ein anonymer Student des Bergbaus und Hüttenwesens. Allein dieses Faktum erfahren wir erst auf Seite 30. Zudem wissen wir von ihm nur, dass er wenig Spaß am Studium hat und es letztlich aufgibt (S. 150). Seine Beobachtungen geben zufällige Begegnungen mit Louki und seine Nachforschungen wieder.
Für den Studenten ist klar, dass sich Louki auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit befindet und dass das Condé ihr Zufluchtort ist, „ hier im Condé wollte sie vor etwas fliehen, einer Gefahr entrinnen“ (S. 11). Zunächst erleben wir Louki als Einzelgängerin, die durch ihre sympathische Erscheinung und ihres gepflegten Äußeren eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich zieht. Sie ähnelt wohl Murgers „Mimi“ in dem Roman „Scènes de la vie bohème“ , besser bekannt als Puccini-Oper „La Boheme“. ( Übrigens heißt „Mimi“ eigentlich „Lucia“, also klangähnlich mit Louki). Den wahren Name Loukis erfährt unser Student nicht, jedoch hat sie mit ihren im Condé erhaltenen Spitznamen auch schon eine neue Identität gewonnen. Allein dadurch stieg ihr Ansehen in der Szene. Am besten drückt dies die Wirtin aus: „ Am allerliebsten mochte ich Louki“ (S. 15). Die anderen Gäste werden von ihr als „streunende Hunde“ (ebda.) bezeichnet. Auch unser Student beschreibt Louki in diesem Zusammenhang ausführlicher: Sie fällt durch langsame, anmutige Bewegungen auf und scheint ein stilles Vergnügen am Alkohol zu haben (S.15f).
Das Fluchtmotiv wird offenkundig, als Louki in ihrem eigenen Stadtteil zufällig dem Studenten begegnet und diese Begegnung sie völlig verunsichert (S. 19). Doch dann verlangsamt sie ihren Schritt, wahrscheinlich in der Erwartung, dass der Student die Gelegenheit zum näheren Kennenlernen wahrnimmt. Doch der traut sich nicht. Zu ihrer „zweiten Geburt“ gehört auch die Freundschaft mit dem “Brünetten in der Wild-lederjacke“, der offensichtlich forscher ist als unser Bergbaustudent und der sich später als ihr neuer Lebenspartner entpuppt. Am Ende des Kapitels taucht auch der zweite Ich-Erzähler auf.
Bei den Fragen: „ Warum ist Louki auf der Flucht, vor wem oder was fürchtet sie sich, welchen Beruf übt sie aus, was für ein Leben führt sie?“ tappen wir im Dunkeln. Aber der Roman geht ja weiter und wir freuen uns auf den nächsten Ich-Erzähler, einen professionellen Beobachter, den Privatdetektiven Pierre Caisley.
2. Der Auftragsstalker und Opfersympathisant
Nach dem vorsichtigen Vorantasten im 1.Kap. und der atmosphärischen Einstimmung übernimmt nun der Privatdetektiv Pierre Caisley das Kommando und liefert neue Fakten zu der charmanten Louki. Der neue Ich-Erzähler wird von Loukis Ehemann Jean Pierre Choreau beauftragt, nach der untergetauchten Ehefrau Jaqueline, alias Louki, zu forschen. Der verlassene Ehemann ist 36 Jahre alt und damit 14 Jahre älter als seine Angetraute. Der Berufsstalker beschreibt Choreau als selbstbewusst und von äußerer Robustheit. Sein kühles Auftreten entspricht auch der öd-modernen Einrichtung seiner Wohnung, in der er Louki nach zweimonatiger Bekanntschaft Asyl gewährt hat. Der versehentlich Auserwählte ist viel beschäftigt und daher kaum zu Hause. In seiner Immobilien-Firma arbeitete Louki als Aushilfssekretärin. Nach der Eheschließung wurde sie zur wenig reizvollen Hausarbeit verpflichtet. Aufgrund der langweiligen Ehe nimmt Louki reiß aus.
Da Caisley Verbindungen zur Polizei und zum Geheimdienst hat, nutzt er einen
V-Mann für seine Recherche. Bereits mit 15 Jahren taucht Louki erstmals in den Polizeiakten auf. In diesem Alter wurde sie spät abends von der Polizei aufgegriffen.
Ihre Mutter arbeitet als Platzanweiserin im Moulin Rouge und bekommt so von den kleinen Fluchten der Tochter nichts mit. Aus Jaqueline wird polizeilich gesehen eine „Herumtreiberin“. Aus den Akten geht hervor, dass Loukis Vater unbekannt ist.
Caisley interpretiert ihr Fluchverhalten als Wunsch, das wahre Leben kennen lernen zu wollen, um der lieblosen Mutter-Tochter-Beziehung zu entfliehen.
Da der Berufsschnüffler väterliche Gefühle, oder vielleicht auch mehr, für Louki entwickelt, beschließt er, seine bisherigen und späteren Informationen nicht an seinen Mandanten weiterzugeben. Choreau ist damit aus dem Spiel und Caisley wird vom Detektiv zum Stalker.
3. Kurze Einblicke ins Innenleben der Ich-Erzählerin
Im dritten Kapitel übernimmt Louki selbst das Wort, sie ist nicht länger nur beobachtetes Objekt, sondern hat als Ich-Erzählerin selbst die Möglichkeit,
uns einen Einblick in ihr Inneres zu geben.
Zunächst berichtet Louki von ihrer ersten Festnahme als Teenagerin. Die Mutter musste sie nach ihrem Dienst im Moulin Rouge von der Polizeiwache abholen. Dabei hört sie die Mutter leise sagen: „Meine arme Kleine“ und es ist das erste Mal, dass „ ihr Blick so lange auf mir ruhte“ (S.72). Das war so ungewöhnlich, da es keine tiefere Zuneigung zwischen Mutter und Tochter gab. Die allein erziehende Mutter leidet offensichtlich immer noch an den Umständen ihrer Mutterschaft und setzt keinerlei Hoffnung in die Tochter. Die Tochter selbst steht sich ihre Sehnsucht nach mütter-licher Liebe nicht ein: „Wir waren beide keine sehr überschwänglichen Menschen“ (S.73). Dass hier ein Verdrängungsprozess vorliegt, wird wenig später deutlich, als ein sehr verständnisvoller Polizist sie im Verhör bedauert, dass sie nicht im Lyceum aufgenommen wurde. „ Er lächelte mich an und blickte mir in die Augen, ein heller Blick, wie der meiner Mutter, aber zärtlicher, aufmerksamer“ (S.75). Offenbar hat der fehlende, unbekannte Vater in ihr tiefe Sehnsüchte hervorgerufen, die sie z.B. durch häufige Kinobesuche zu verdrängen versucht (S.78). Von zahllosen Ängsten geplagt, will Louki aus den beengten häuslichen Verhältnissen ausbrechen und erlebt ihre Fluchten als eine berauschende Erfahrung. Durch die vielen neuen Erfahrungen lernt sie zudem die Freiheit lieben und wird selbstbewusster (S. 79 -83).
Dann erfolgt eine schicksalhafte Begegnung: Jeanette. Sie sollte ihre Freundin werden, bis in den Tod. Louki gibt sich ihr gegenüber als Studentin aus (wäre sie doch so gerne geworden, wenn es mit dem Lyceum geklappt hätte). Jeannette begleitet Louki mit nach Hause und wundert sich über die kühle, spartanische Einrichtung der Wohnung und äußert ihre Verwunderung, dass die Eheleute in getrennten Schlafzimmern nächtigen. Aus ihrer prekären Situation will Jeanette die neu gewonnene Freundin mit dem Genuss von Drogen befreien (S. 91ff). Louki spürt, dass dies nicht der richtige Weg ist, zumal sie schon mehrfach erfahren hat, dass die Fluchten viel berauschender sind als andere Stimulanzen. „Ich war nur dann wirklich ich selbst, wenn ich ausriss“ (S. 101). Damit beendet Louki ihren Ich-Erzählerin- Status und übergibt ihrem Geliebten den Staffelstab.
4. Roland: Neues Glück oder erneuter Absturz?
Der vierte Ich-Erzähler ist der „Brünette in der Wildlederjacke“, Roland, Loukis Geliebter. Er berichtet im vierten und fünften Kapitel.
Die gemeinsame Ausgangsposition ihrer Liebe beschreibt Roland: Unsere Begegnung erscheint mir … wie die Begegnung zweier Menschen, die keine Verankerung hatten im Leben“ (S. 107). Die beiden lernten sich kennen, als Louki noch bei ihrem Ehemann wohnte. Dieser war so etwas wie ein Ersatzvater (S. 110f). Nach einigen intensiven Begegnungen in Rolands Hotelzimmer entscheidet sich Louki, mit Roland zusammenzuziehen. Dadurch erkennt Roland auch den verhängnisvollen Einfluss der Freundin Jeanette auf Louki und versucht den Kontakt zu unterbinden, damit Louki von ihrer Drogensucht befreit wird
(S. 122 f). Auch erkennt er ihre unstillbare Freiheitsliebe. „Sie wollte ausbrechen, fliehen, immer weiter, kompromisslos Schluss machen mit dem Alltagsleben und freie Luft atmen“(S.126). Als sie einmal in einem anderen Hotel übernachtete, äußert Louki spontan. Hier möchte sie endlich „Wurzeln schlagen“. - „Du hast recht. Wir sollten für immer hier bleiben“(S. 137). Doch statt eine gemeinsame Heimat aufzubauen, geht sie später ihrer eigenen Wege.
Im 5.Kapitel berichtet Roland zunächst von Begegnungen mit Menschen, die Louki und ihn als Paar erlebt haben und die das schreckliche Ende Lokis einfach nicht begreifen können. Ein von beiden verehrter Esoterik-Lehrer bemerkt: „Ich habe nie verstanden warum … Wenn man jemanden wirklich liebt, muss man seine geheimnisvolle Seite akzeptieren …“(S.147).
An einem Samstag im November passiert das Schreckliche: Roland trifft alte Bekannte im Condé und diese teilen ihm mit „ Louki, sie hat sich aus dem Fenster gestürzt.“(S. 156). Roland eilt ins Krankenhaus und erfährt von Pierre Caisley, dass Louki verstorben sei. Sie hatte bei Jeanette übernachtet, sei auf den Balkon gegangen und habe sich in die Tiefe gestürzt.
(Fortsetzung folgt)
Wolfgang Schwarz, April 2015