(....Fortsetzung zu den Randnotizen „Herrn und Frau Thomas Mann“):
 
Das Spätwerk. Der Erwählte
 

Die Thematik des Inzests sollte Thomas Mann lebenslang beschäftigen. Über 40 Jahre nach der Novelle „Wälsungenblut“ greift er das Inzest-Motiv wieder auf. Er bearbeitet diesmal die „Gregorius-Legende“ von Hartmann v. Aue. Dieser hatte die Geschwisterliebe zu einem doppelten Inzest erweitert (Mutter-Sohn-Liebe). Die Sühne für das Verbrechen übernimmt dabei das unschuldige Kind, das später auch noch unwissend die eigene Mutter heiratet und mit ihr zusätzlich 2 Kinder zeugt. Die germanische Wälsungen-Sage erweitert sich so um den Ödipus-Mythos. Zunächst waren es die Geschwister Wiliges und Sibylla die nicht widerstehen konnten. Danach wird das Ergebnis der Schandtat, der namenlose Knabe in eine Kiste gesteckt und auf dem Meer ausgesetzt, jedoch Dank göttlicher Fügung wird die Kiste mit Kind von einem Fischer geborgen und dem Abt Gregorius übergeben. Der ausgesetzte Kind erhält den Namen seines Wohltäters „Gregorius“und wächst auf Geheiß des Abtes bis zu seinem 6.Lebensjahr bei dem Fischerehepaar auf. Währenddessen haben sich auch die leichtsinnigen Eltern des Buben „Wiliges“ und „Sibylla“ voller Reue getrennt. Sibylla gelobt Enthaltsamkeit und Wiliges stirbt auf der Bußfahrt ins gelobte Land.


Der Sohn Gregorius wird im Kloster auf ein mönchisches Dasein vorbereitet, doch der möchte lieber Ritter werden und seine Herkunft herausfinden. Er leidet unter seinem Nichtwissen „Ich bin ein Auswurf“ ( Der Erwählte S. 110), gelangt auf seiner Suche in den Herrschaftsbereich der Herzogin „Sibylla“. Dort gewinnt der junge Ritter nach vielen Heldentaten und erfolgreichen ritterlichen Wettkämpfen die Gunst der Herzogin. So wechselt der Epos vom Wälsungen- in den Ödipusmodus. Trotz des Altersunterschiedes ehelicht der jugendliche, unwissende Held seine Mutter. Drei Jahre währt das Glück, 2 Kinder werden geboren, dann aber entdecken die Eheleute ihre Blutsverwandtschaft. Sybilla entsagt nun wirklich aller Lust und Gregor schwört schlimmste, masochistische Buße. Er heuert auf einem Stein in einem fernen See an, lebt dort in einer Höhle, diese Existenz dauert 17 Jahre, er wird ausschließlich von einer Mineralquelle genährt. Dann erscheint einem bedeutenden katholischen Adelsherren eine Vision, in der ihm Gregor als künftiger Papst offenbart wird. So wird aus dem selbstquälerischen Eremiten Gregor der Papst Gregorius. Als Sybilla im hohen Alter zu einer Wallfahrt nach Rom aufbricht, waltet dort ihr Ehemann und Sohn, schon lange Oberhaupt der allein selig machenden Kirche. Natürlich erkennen sich bei der Audienz im Vatikan Mutter/ Ehefrau und Sohn/Ehemann wieder, akzeptieren die bösen Schicksalsmächte und freuen sich auf ein glückliches Wiedersehen im Paradies.
In der ironisch erzählten Novelle übernimmt der unverdächtige Mönch Clemens die Rolle des Erzählers.

Zunächst beschreibt er das tragische Schicksal der Eheleute Grimald und Baduhenna:
die Ehefrau stirbt bei der Geburt der Zwillinge Wiliges und Sybilla. Die Kinder wachsen heran und Vater Grimald verliebt sich in seine Tochter, aber er verspürt auch große Freude beim Anblick seines nackten Sohnes Wiliges. Dabei stellt er fest, dass „ sein Mannesteil zu groß und ausgewachsen sich ansah im Verhältnis zu seinem schmalen, elfenbeinfarbigen Körper“ ( Der Erwählte, S.21). Der Mönch Clemens fühlt sich natürlich der Wahrheit verpflichtet und von diesem Anspruch konnte auch der Autor Thomas Mann ihn nicht befreien. Sibylla befindet sich im Zwiespalt. Sie erkennt zwar das Verlangen des Vaters, doch die Wünsche des Bruders reizen sie mehr und so flüstert sie dem Bruder ins Ohr: „Ich habe es lieber, … wenn du mich küsset, als wenn unser lieb Herre wert mir Hals und Wange mit seinem rostfarbenen Schnauz zerkratzt“ (S.27) - (Ja, ja, die älteren bärtigen Herren haben es wahrlich nicht leicht!). Bruder und Schwester wollen´s jetzt aber wissen und treiben es nun heftig wie im Wälsungen-Blut wieder auf dem Fußboden, dieses Mal aber auf einem weichen Zobel.

Sie werden allerdings von Hanegriff überrascht. Das will sich natürlich Wiliges nicht gefallen lassen und so tötet er kurz entschlossen den Störenfried.
So erleben die Verstrickungen ihre Fortgang und Thomas Mann weiß sich nur durch den Rückriff auf die Legende vom „Heiligen Gregorius“ aus der erzählerischen Bedrängnis zu lösen. So werden wie bei Hartmann die Irrwege der Liebenden ironisch kommentiert wiedergegeben. Der fast 80jährige Nobelpreisträger schien dabei rechte Freude verspürt zu haben.

Die Novelle wurde erst nach dem Tode des Autors veröffentlicht und so zeigte Thomas Mann noch einmal, dass auch ein Greis noch hocherotische Texte verfassen konnte. Ob die Veröffentlichung Frau Thomas Mann gefiel und ob sie evtl. sogar darüber lachen konnte, entzieht sich unserer Kenntnis.

 


Wolfgang Schwarz, 03.02.2015

(für Interessierte: Fortsetzung folgt…...)
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