Nachlese zu: Stefan Zweig II, Die Welt von Gestern

Paul Verlaine, Das verkommene Genie

Weit bedeutender als Peter Hille war für Stefan Zweig und die übrige literarische Welt Paul Verlaine. Er spielte in der frz. Literatur in seiner Wirkung und Charakter eine ähnlich epochale Rolle wie im ausgehenden Mittelalter Francois Villon. Beide machten es ihren Fans schwer oder vielleicht auch umgekehrt: Sie waren Querköpfe, Kriminelle, Säufer, Dichterfürsten und Clochards. 


Der Vater (ein Berufsoffizier, der seine besten Jahre schon hinter sich hatte) und die Mutter (eine Bauerntochter im vorgerückten Alter) setzten große Hoffnungen in den talentierten Sprössling, der 1844 in Metz geboren wurde. Nach dem Abitur nahm er brav ein Jurastudium auf und schrieb gleichzeitig für Zeitungen und Zeitschriften. 
Mit 22 Jahren veröffentlichte er seine erste Gedichtsammlung „Poemes Saturniens“, die vom breiten Publikum kaum zur Kenntnis genommen, in Fachkreisen aber als Sensation gefeiert wurden. Verlaine galt prompt als Nachfolger Baudelaires.
Tonangebende frz. Dichter bewunderten seine Phantasie, seinen formalen Mut, seine Musikalität und die Bildhaftigkeit seiner Sprache. Die „frei schwebende Sprache“ verblüffte Leser und experimentierfreudige Kollegen. Aufgrund dieser Überraschungs-vielfalt zeigten sich aber auch Übersetzungen seiner Verse als überaus schwierig. Das möchte ich am Beispiel zweier Zeilen aus den „Saturniens“ verdeutlichen. Karl Krolow, ein anerkannter moderner Lyriker, übersetzt die Verse wie folgt (in: Paul Verlaine, Gedichte, Leipzig 2004, S. 11):

Was quälst du, Heimweh, mich nach alten Tagen!

In herbstlich-leerer Luft die Drosseln jagen

Hannliese Hinderberger hält dagegen (Paul Verlaine, Gedichte, Gerlingen 1959, S.9):

Erinnerung, was willst, was willst du mir? Es flohn

Die Drosseln längst durch herbstlich müde Luft davon

Dies Beispiel zeigt, wie unterschiedlich Übersetzungen des Metaphorischen, Stimmungshaften und Rhythmischen ausfallen können. In dem Poem „Mon reve famliier“, ein sehr beeindruckendes Prosagedicht, erwähnt der Poet seine oftmals wiederkehrenden Träume, in denen eine schöne, ihn liebende Frau sich ihm immer wieder zeigt, zwar ständig in Details verändert und doch als Gleiche identifizierbar ist.

Hier zunächst Wilhelm Williges Fassung (o.J., … Leipzig 2004, S.13):

Denn sie versteht mich; sie allein sieht hell und klar

Mein Herz; sie löst das Rätsel, das darein geschrieben;

Nur sie hat, weinend, stets die Falten mir vertrieben

Von denen meine bleiche Stirn verdüstert war.

Zum Vergleich Hinderbergers Version (S.17):

Denn sie versteht mich ganz, für sie allein ist klar

mein Herz, und dunkel wird es ach, und fremd in mir

Nur sie ists, welche Trost der matten Stirne lieh

Mit ihren Tränen stets, wenn je ich müde war.

Man sollte kaum glauben, dass die beiden Übersetzungen sich auf ein- und dieselbe Strophe beziehen. Thematisch geben zwar beide Versionen das Original korrekt wieder und ebenfalls das Reimschema (umfassender Reim) ist bei beiden identisch. Auch wenn meine Französisch-Kenntnisse recht kläglich sind, so scheint mir, dass Hinderberger textnäher und Williges freier die Strophe übertragen hat.

Bei dem wunderbar stimmungsvollem Gedicht „Promenade sentimental“ scheint sich der Übersetzer Otto von Taube weit stärker von der Vorlage entfernt zu haben als unsere sehr korrekte Frau Hinderberger. Gleiches gilt für Karl Krolow beim „L`Heure du berger“.

Bei dem Gedicht „Le Rossignol“ wettstreitet Hinderberger mit Wilhelm Hausenstein und Richard Schaukal. Von mir erhält Schaukal die Gold- und Hausenstein die Silbermedaille. Bei der elegischen Dichtung „Serenade“ liegt mit Cäsar Flaischlein (ca.1930) nach meiner Wertung ebenfalls ein männlicher Übersetzer vorn (Ich bin gespannt, wie unsere Französischlehrerinnen das beurteilen!).nun aber genug der olympischen Wetteiferei!

Kommen wir zurück zum Biographischen. 
Der Bann ist gebrochen: Verlaine taucht häufig in literarischen Zirkeln in Paris auf und verliebt sich zudem wie von ungefähr in die 16jährige Mathilde Mandé. 1869 erscheinen „72 Galantes“. Wir, die biederen Bewunderer, erleben bei den Über-setzungen einen Kampf auf dem Olymp. Hanneliese gelingt eine schöne Übersetzung der „Claire de lune“. Noch aufregender aber ist die Auseinandersetzung der Giganten: Es messen sich der Sektenführer Stefan George und der angehende Bestsellerautor Stefan Zweig.

Wir vergleichen die 1.Strophe:

Stefan George:

Dein herz ist ein erlesenes gefild

Bezaubert von dem takt der bergamasken

Von lautenspielen und vom tanz – ein bild

Fast traurig trotz der ausgelassenen masken

Den musikalischen Versen folgen nun die des zweiten Stefans, Stefan Zweig:

So seltsam scheint mir deine Seele, wie

Ein Park, durch den ein Zug von Masken flimmert.

Doch Tanz und ihrer lauten Melodien

Verbirgt mir Schmerz, der durch die Masken schimmert

In dem ersten steckt viel George, schließlich führt er die Poetenriege an. Die Sprachmelodie ist ihm wichtiger als die Textgenauigkeit. Beim zweiten Versuch gibt Zweig sein Bestes, soweit Verlaine ihm das vorgibt.

Rauschhaft erfüllt vom Zusammenleben mit Mathilde veröffentlicht Verlaine seinen 3.Gedichtsband „La Bonne Chanson“. Dort charakterisiert er u. a. liebevoll seine vorübergehend Angetraute ( Übersetzung Theodor Däubler, Reclam S. 51):

Wie fein war die Musik in ihrer Stimme!

O, sie begleitete, von Reiz umweht

Ein liebes Stammeln, fern von jedem Grimme,

in dem des Herzens Frohsinn sich verrät.

Während die Kanonen des dt.- frz. Krieges donnern, gibt es häufiger gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten, so dass Mathilde kurz nach der Geburt des Sohnes George den cholerischen Ehemann verlässt (30.10.1871).

Gleichzeitig entwickelt sich eine innige Freundschaft zwischen Verlaine und dem 17jährigen Dichtergenie Rimbaud, der später bereits mit 21 Jahren der Lyrik Lebewohl sagt, und doch so deutliche Spuren hinterließ. Verlaine begab sich aufs Glatteis, er verliebte sich in den knabenhaften Exzentriker. 1973 eskalierte die Beziehung und Verlaine überlegte nicht lang und schoss den Geliebten mit zwei Pistolenschüssen nieder. Da er den Angebeteten aber nur verletzte, kam er mit 2 Jahren Gefängnis davon. In der Gefängniszeit reichte Mathilde die Scheidung ein und Verlaine befand sich auf der Rutschbahn in die Hölle.

Ohne Ehefrau, ohne den Geliebten verfasst er die „Lieder ohne Worte“.

Seine eigene Befindlichkeit drückt er wie folgt aus:

Es weint mein armes Herz,

wie auf die Stadt es regnet,

ach, welch ein banger Schmerz

durchdringt und quält mein Herz?

(Wolf von Kalkreuth, Reclam–Ausgabe S.65)

Stefan Zweig übersetzt diese Strophe:

Wie nun des Regens Gerinn

Rauschend die Stadt umringt,

fühl ich ein Trauern, das in

Meine schauernde Seele dringt

(ebda S. S. 67)

Neben diesen Weltschmerzszenarien reflektiert Verlaine auch konkret seine Gefängnissituation:

Der Himmel, drüben über dem Dach

in tiefblauem Schweigen

Ein Baum, drüben über dem Dach

Mit wiegenden Zweigen

Hat je ein Gefangener seinen Blick aus dem Gitterfenster empfindsamer beschrieben?

Nach seiner Entlassung versucht sich der Poet eine bürgerliche Existenz als Lehrer, Landwirt usw. aufzubauen. Alle Versuche scheitern kläglich. Er verfällt immer stärker dem Alkohol, lässt seine Aggressivität in heftigen Gewaltszenen freien Lauf. Gelegentlich dichtet er auch. 1884 verfasst er z.B. ein Gedicht über die Poesie:

Musik sei dein Lied vor allen Dingen!

Drum ziehe vor, was unbestimmt

Sich löst in der Luft, verweht, verschwimmt.

Und nichts beschwere seine Schwingen.

(Reclam, S.107)

Verlaine rückt also die Poesie in die Nähe der Musik, des Vagen und Schwebenden. 

Auch löst er sich aus dem Regelwerk der klassischen Formen:

Du sollst es nicht nach Regeln zwingen,

lass dein Gedicht im Winde wehn

lass es gelöst zu Hauch zergehn:

Musik, Musik vor allen Dingen

(Übersetzung Schaukal, Reclam S.109)

Verlaine verwahrlost immer mehr, muss 1885 für einen Monat erneut ins Gefängnis, der physische Verfall ist nicht zu übersehen. Ihm gelingt es nicht, den „Dämonen seines eigenen Ichs zu entfliehen“ (Reclam, S. 141).

Die kranke Seele fühlt mit dumpfen Weh das Ende.

Dort unten, sagt man, strömt in schweren Kämpfen Blut.

O nicht dabei zu sein! So schwach und lahm der Mut.

O dass das Leben nicht so blütenlos entschwände!

(Reclam. S.119)

Verlaine zieht durch die Pariser Kneipenszene, schläft unter Brücken und fürchtet vorausahnend die Hölle. Hoffnungslos, doch voller Sehnsucht formuliert er seinen Lebenswunsch:

Ich wollte, wenn mein Leben noch ein Leben wäre,

Dass eine sanfte Frau mir, jünger um 10 Jahre

Als ich, an meiner Seite still mein Haus bewahre,

Zur Hälfte tragend so viel dunklern Loses Schwere.

Auch ein Clochard ist eben ein Mann! Frauenrechtlerinnen und brave Hausfrauen werden sich über das 1891 veröffentlichte Gedicht gefreut haben

Es klingt wie eine Ironie des Schicksals: Zu seinem 50.Geburtstag wird der Poet zum „Dichterfürsten“ gekürt. Der Dichterfürst aber hungert, 2 Prostituierte gewähren ihm noch Unterschlupf.

Kurz vor seinem Tode verfasst der Dichterfürst seine Verteidigungsrede (Paul Verlaine, Gedichte, S.314):

Ich bin ein sonderbarer Mensch, wie man mir sagt;

nach einigen bin ich ein Verbrecher, ungefragt

nach anderen bin ein ausgesprochener Dummkopf ich.

zu trügenden Aposteln zählen manche mich.

Und andere zählen mich den Göttern bei, warum?

Doch hab ich sehr gelitten und auch viel genossen

Dich, schnödes Mittelmaß, dich hab ich stets gemieden

So ging er dahin, am 8.1.1896 folgten Tausende seinem Sarg und die beiden Prostituierten stritten sich darüber, welche der Vortritt gebühre. Stefan Zweig las wohl zu dieser Zeit die ersten Gedichte des gekrönten und verpönten Dichters.

Wolfgang Schwarz, 11. Juni 2015