Nachbetrachtung naturwissenschaftlicher Gesprächskreis
Thema: Zeit

Gegenwart oder das Leuchten der Zeit

In unserer Gesprächsrunde im Dezember 2015 erörterten wir recht ausgiebig die Frage, welche Bedeutung hat die Gegenwart im Zeitkontinuum Vergangenheit - Zukunft und ist Gegenwart ein Momentum von allem oder von nichts?

Ich hatte leichtfertig die These vertreten (und ich bin sicher nicht der Erste dieser Spezies), dass es Gegenwart überhaupt nicht gäbe, denn sobald wir uns dem Moment zuwenden, ist er schon verschwunden. Subjektiv oder allgemein aus menschlicher Perspektive betrachtet, erscheint dies ja plausibel. Denn wenn wir uns dem aktuellen Geschehen zuwenden, ist uns dieses im Original schon enteilt, da unsere registrierte Wahrnehmung dem aufgetreten Geschehen ja stets hinterherläuft; Reaktion und Reflexion, manchmal in Sekundenschnelle, oft aber auch mit erheblicher Verzögerung. Automatisierte Reflexe sind oft rekordverdächtig, da sie angeboren sind oder blitzschnell abgerufen werden können. Doch viele Reaktionen sind Ergebnis eines z. T. mühseligen Lernprozesses, vor allem wenn sie perspektivisch sind und sich verschiedene Alternativen anbieten, bis sie endlich automatisiert erscheinen. Oft sind die erlernten Reflexe aber auch Ausdruck einer motorischen oder psychischen Störung und spiegeln leidvolle Erfahrungen wider.

 

Nehmen wir uns als Beispiel einen Boxkampf:

Ein Angreifer beabsichtigt beim Gegner einen Kinnhaken zu landen. Je nach Reflexautomatisierung geht das Zielobjekt in Deckung, versucht dem Schlag auszuweichen oder geht zum augenblicklichen Gegenangriff über. Dies hängt von seiner Antizipationsfähigkeit ab oder im effektivsten Fall vereint der Gegner Verteidigungs- und Angriffsreaktion, um den Angreifer selbst in Not zu bringen. Wir sehen also, dass bei einem überlegenen Kämpfer analytische Antizipation und motorisch schnelle Umsetzung die Kampfstärke bestimmen. Diese Fähigkeiten sind Produkt von Talent und Training, also von vorgängigen Lernprozessen und zukunftsorientierter, effektiver Handlungsziele. D.h. das augenblickliche Kampfgeschehen schließt Vergangenheit und Ziel- und Wunschorientierung mit ein.

Wenn wir also Gegenwart in unserer persönlichen Wahrnehmung als Zeitkorridor verstehen und nicht als Unmittelbarkeit, besitzt die Verwendung des Begriffs des Jetzt durchaus seinen Sinn. Allerdings scheint mir die Definition des vorsokratischen Philosophen Heraklit noch anschaulicher: Alles fließt! Diese Aussage legt die Schlussfolgerung nahe, dass wir Gegenwart nicht als punktuelles Ergebnis erfassen können, sondern nur Augenzeuge eines Werdens sind. So erscheint selbst wissenschaftliche Erkenntnis zu einem fiktiven, geistig fixierten Stillstand, der zwar geistige Pflöcke einschlägt und uns so Orientierung verschafft, doch sind diese Markzeichen letztlich auch nur von vorübergehender Gewissheit. Der Zeitkorridor fixiert scheinbar den Veränderungsprozess und erleichtert unser Verständnis zwischen den Polen Entstehen und Verschwinden, zwischen Urknall und Kältetod des Universums. Für uns Menschen ist das Vergangene also Überlieferungsinformationen und Rekonstruktion, das Künftige dagegen Schlussfolgerung und Prognose. In der Evolution des Lebens offenbart sich dies in der Weitergabe des genetischen Erbes, im epigenetisch verankerten Verhaltensmuster, in der persönlich erfahrenen Sozialisation. Noch vor wenigen Jahren definierte man den Menschen in erster Linie als soziales Wesen, aber auch als ein selbst bestimmtes Individuum. D.h., dass unsere Erfahrungen uns zu dem machen, was wir sind und was wir sein wollen. Was wir sind, ist Ergebnis unserer Erziehung, unserer Erfahrung, unseres Willens, und so wird Gegenwart letztlich vom Vergangenen und vom unserem Selbstseinwollen bestimmt. Man könnte Gegenwart auch als unser gewordenes Selbstbild verstehen. Manche glauben sogar, ihr gegenwärtiges Auftreten spiegelt die Phase ihrer eingebildeten Selbstverwirklichung wider. Sie verstehen ihr augenblickliches Auftreten als Überwindung früherer Schwächen durch die zwischenzeitliche Orientierung an ihr künftiges besseres Selbst, obwohl ihre Mitmenschen dies Rollenspiel als eine Illusion entlarven würden. Dabei wird oft die Macht des Vergangenen unter- und die Freiheit des Gegenwärtigen überschätzt.

Seit langem versucht die Menschheit das Gegenwärtige zu fixieren. Die Uhr hat dabei eine fast symbolische Bedeutung. Der Prozess wird in Intervalle zerlegt, Sekunden, Minuten Stunden, Tage. Diese Marken erleichtern die Raum-Zeitorientierung, aber sie können nicht die Zeitspanne des Gegenwärtigen zweifelsfrei bestimmen. Unser Alltag wird so zwar strukturiert, spiegelt uns aber eine fragwürdige Objektivität vor. Wir sagen z.B. an einem bestimmten Tag im Jahr: Heute geht die Sonne um 7.32 Uhr auf. Jeder weiß damit etwas anzufangen, aber mit der Wirklichkeit hat das nichts zu tun. Dennoch sind solche Aussagen für die Alltagsbewältigung unerlässlich und immer noch zugänglicher als Spekulationen über Vergangenheit und Zukunft. Die Gegenwart ist eben doch das Beste im Zeitkontinuum und das Allgegenwärtige im Fluss des Seins. Ohne Gegenwart gäbe es keine Vergangenheit und auch keine Zukunft, ohne sie gäbe es nur ein Nichts, keine Evolution, keine Sinnsuche, kein Abschiednehmen, keine Hoffnung.

Backen wir also kleine Brötchen:

Ohne Gegenwart könnte wir uns nicht genötigt sehen, unser Selbst zu modifizieren und die Hoffnung hegen, dies könnte uns sogar gelingen.

Danke also an den Fluss, auf dem wir uns gemächlich oder schnell treiben lassen! Achten wir also die Gegenwart, das Vergangene lässt sich ohnehin nicht ändern, aber in der Gegenwart können wir noch an den Stellschrauben des Künftigen drehen!

Dazu können wir das zukünftige Gegenwärtige nutzen.

Fortsetzung:

Placido Domingo, 75 Jahre alt und allgegenwärtig

Am 75.Geburtstag des Ausnahmetenors sahen und hörten wir im Filmclub den Opernfilm „Carmen“, einem Gegenentwurf zu dem im selben Jahr (1983) produzierten Tanzfilm.

Ohne Pause folgten alle höchst konzentriert und begeistert der 2½-stündigen Bizet-Oper. Einige waren sichtbar ergriffen und verließen scheinbar schwebend den akaTreff. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass unsere Überlegungen zum Zeitkorridor einer Ergänzung bedurften.

Wer dieses Erlebnis genoss, spürte stets Gegenwärtigkeit nicht in Sekunden oder Takten, sondern in der Dauer. Der gesamte Film war quasi der Zeitkorridor der Gegenwart. Die wunderbaren Landschafts- und Tanzbilder besaßen dabei nur eine unterstützende Funktion, die entscheidende Wirkung ging von der Musik aus. Sie trug die Hochstimmung des Gegenwärtigen, die sich erst langsam nach den letzten Takten abbaute. D.h. unser Zeiterleben hat offensichtlich viel mit unseren Emotionen zu tun, die allmählich aufgebaut werden, anhalten und langsam nachlassen. So ergibt sich eine Einheit, die einen kürzeren oder längeren Zeitkorridor herausbildet.

In dieser Beziehung scheint mir die Musik einzigartig und allen anderen Künsten überlegen. Man denke nur an Bachs H-Moll Messe, die Passionen und Oratorien, an Beethovens und Brahms Sinfonien oder Wagners Oper, die eine großen Zeitraum ausfüllen und als gegenwärtige Einheit empfunden werden und auch nur in dieser Form ihre Höchststimmung erreichen können. Das gilt natürlich nicht nur für die klassische Musik, sondern auch für Rockkonzerte oder Tanzmusik. Aber gerade die klassischen Großformen zielen bewusst darauf hin und dies gilt konsequent komponiert besonders für die leitmotivische Konzeption der Wagner–Opern. Ein jäher Abbruch würde schmerzhaft empfunden werden, weil der Zeitkorridor zerstört wäre.

Das Augenblicksempfinden ist also nicht vom Einheitsgefühl zu trennen. So scheint mir die Musik auch die höchste Kulturform des Gegenwartserlebens darzustellen. Ansatzweise kann vielleicht noch die Lyrik mit ihr mithalten. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass Musik auch gern als Unterstützung für andere Kunstformen verwendet wird ( Das Schauspiel wird zur Oper, Bewegungsformen werden zum Tanz oder Ballett, die Filmmusik interpretiert die Handlung usw.). So bekommt der Dichter, Dandy und Verführer der „Carmen-Novelle“ Prosper Mérimée etwas von dem Glorienschein der Musik Bizets ab. (Diese Genugtuung konnte der eitle Charmeur leider nicht lebend auskosten).

Wenn wir den Zeitkorridor des Gegenwärtigen jedoch an unseren Empfindungen festmachen, dann dürfen wir natürlich unsere Liebesgefühle nicht vergessen. Carmen kennt nur den erotischen Höhenrausch, der nur für eine bestimmte, begrenzte Zeit währt und zu seiner Wiederherstellung einer neuen Liebe bedarf. Escanillo dürfte ähnlich veranlagt gewesen sein, während Don José wohl in seinen alles beherrschenden Gefühlen ausdauernder erscheint. Einzig Michaela scheint in ihrer Liebesfähigkeit gezügelter und überdauernd. Sie verkörpert das Ideal einer glücklichen, lebenslang liebenden Frau wohl am Glaubwürdigsten.

Da die Liebe im menschlichen Dasein eine so große Rolle spielt, könnte man vielleicht auch sagen, die, die lieben, erleben auf wunderbare Weise das dauerhaft Gegenwärtige.

Wir haben in unserem Gesprächskreis versucht, die Gegenwart als ein physikalisches Phänomen zu erfassen, um dann zu den neurologischen Verästelungen überzugehen. Verbinden wir jedoch das Gegenwärtige mit unseren Emotionen und Befindlichkeiten, sehen wir, wie schnell unsere Lebensfreude oder unser Frust und unsere Depression unser Zeitempfinden bestimmt. Musik und Liebe nehmen dabei eine exponierte Stellung ein. Weil Carmen diese Zeitwahrnehmung in vollen Zügen auskosten wollte, nahm sie sogar den Tod in Kauf. Der Rausch war ihr wichtiger als ein langes von Alltagsrhythmen bestimmtes Leben. Für das Erotische war sie bereit zu sterben, weil sie dies als die stärkste Form des Gegenwartserlebens wahrnahm. In der Kunst wird der Liebestod oft als die höchste Augenblickserfahrung des menschlichen Daseins zelebriert, lassen wir es damit bewenden: Liebe ist Gegenwart und eine schönere Form ist kaum denkbar, da sie einen überaus breiten Zeitkorridor einnehmen kann.

Wolfgang Schwarz, 03.02.2016

 

Anmerkung:
Der naturwissenschaftliche Arbeitskreis wird künftig auf das gemeinsame Kochen verzichten und ansonsten seine Arbeit voraussichtlich im Herbst wieder aufnehmen. Interessenten melden sich bitte bei Fau Carla Schlicht, Tel.0561-69278.

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