Donna Tartt, Die geheime Geschichte, München 1993


Die  Dialektik des Schönen und des Bösen

Nachdem die unermüdlichen Leseratten des Literaturkreises den großartigen Roman „Der Diestelfink“ gelesen hatten, äußerten viele Teilnehmer den Wunsch, noch mehr von der geheimnisvollen Schriftstellerin zu besprechen. Allerdings war dazu Geduld angesagt, denn die bestehende Lektüreliste muss erst einmal abgearbeitet werden. Ich bin aber zu ungeduldig und wage mich an das Erstlingswerk der Autorin; “Die geheime Geschichte“, den Donna Tartt zehn Jahre vor dem zweiten Werk “Der kleine Freund“ veröffentlicht hat. Der Erstling war eine echte Sensation und für den folgenden Roman ließ sich die smarte Autorin 10 Jahre Zeit. Eine so lange Bearbeitungsdauer ist in unserer schnelllebigen und Erfolgs haschenden Zeit schon sehr ungewöhnlich, zumal wir nach dem „kleinen Freund“ weitere 10 Jahre auf den „Diestelfink“ warten mussten.

Dieser erste Roman besitzt neben seiner literarischen Brillanz eine ungewöhnlich lebens-philosophische Tiefe. Die Autorin zeigt den Menschen in seiner Widersprüchlichkeit von ästhetischem und emotionalem  Empfinden bei gleichzeitigem Elitebewusstsein. Dem Leser wird so bewusst, dass in der Evolution die Intelligenzentwicklung einhergeht mit dem Hang zum Bösen als eine Möglichkeit des Schönen. In diesem Roman spiegelt zudem der Ritualmord die gleichzeitige Niedertracht von Opfer und Täter wider.

Wir kennen das schon lange aus den alten Heldensagen, wobei die Mythen auch gleichzeitig die Geburtsstunden der Religion darstellen. So erheben z.B. die Alten Griechen in der Figur des Zeus das Machtstreben des Herrschers zum ästhetischen Prinzip. Da der oberste Gott gleichzeitig seine erotische Stärke sowohl bei Göttinnen  als auch bei menschlichen  Frauen unter Beweis stellt, vererbt sich eben auch in der menschlichen Kultur das Schönheitsprinzip der Machtausübung und der geistigen Raffinesse. Diese Sichtweise wird in dem Roman den College-Studenten durch den Geschichtsprofessor Julian Morrow vermittelt.

Der Roman beginnt mit einem elektrisierenden Prolog: Bunny, der gemeine Schmarotzer, wird seit Wochen vermisst und der Erzähler deutet an, dass dieser Opfer eines Mordanschlages geworden ist. Der Erzähler, Richard Papen, weiß von dem schrecklichen Verbrechen, das offensichtlich von seinen vier Mitschülern verübt wurde. Richard, aus kleinen kalifornischen Verhältnissen stammend, steht diesen besonders nah. Richards hässlicher Vater besitzt eine Tankstelle und kann seinem Sohn keine anspruchsvolle Ausbildung finanzieren. Trotzdem schafft es Richard, auf der High-School besonders im Altgiechischen zu glänzen und ein Stipendium für das Hampden-College zu erhalten. Dort wird er im elitären Kreis des Altgriechisch Professors Julian Morrow  aufgenommen. Diesem Zirkel gehören 6 Studenten/innen an: der Überflieger Henry, Edmond, der Schnorrerr und Aufschneider, die Geschwister Charles und Camilla (Waisenkinder aus einem wohlhabenden Umfeld), der leicht blasierte Franzis, dem Auto und eine Villa zur Verfügung stehen, und eben der scheinbar deplazierte Richard.

In seinen Vorlesungen schwärmt der verschrobene Professor Morrow besonders für Aischylos und Homer. Besonders schätzt er Klytaimnestra, die keine Skrupel kennt, ihren Ehemann, König Agamemnon, dem Sieger aus dem Trojanischen Krieg, zu ermorden. Professor Julian fasziniert vor allem die Verkuppelung von Schönheit mit dem Bösen und Furchterregenden. (Zitat: „Der Tod ist die Mutter der Schönheit“, S.46) Bereits zu Beginn des Romans wird damit das Leitmotiv für den kollektiven Mord an den Schmarotzer „Edmond/Bunny“ formuliert. Trotzdem beglückt uns Donna mit weiteren über 500 Seiten Lesestoff.

Richard verliebt sich schon beim ersten Kennenlernen in die zartgliedrige  Camilla. Doch die Resonanz hält sich in Grenzen. Umgekehrt ist die freizügige Judey Pooney scharf auf unseren braven Ich-Erzähler. Richard trifft sich aber lieber mit Bunny, ohne zu wissen, dass bei diesem eine Einladung bedeutet, dass der Eingeladene stets die Zeche zu bezahlen habe. Bunny stellt seine Muskelstärke, Körpergröße und sein angebliches Wissen zur Schau. Das genügt: Bezahlen muss der andere. Aber auch Richard hat kein Geld. Hemry kennt Bunnies Masche  und springt in die Bresche. Im Gespräch deutet Bunny an, dass er Schwule hasst und Francis gehört offensichtlich zu dieser Sorte Menschen. Richard sucht nach dem Trinkgelage lieber den Kontakt mit den Zwillingsgeschwistern Charles und Camilla.

Richard genießt das erste Semester. Die Ferien versetzen ihn aber in Angst und Schrecken. Einen Urlaub kann er sich nicht leisten und nach Hause will er auch nicht. Henry und Bunny fliegen nach Italien und Richard verdient etwas Geld bei einem Dozenten, holt sich in diesen Winterferien auch noch eine Lungenentzündung und muss sogar ins Krankenhaus. Überraschend kehrt Henry ohne Bunny aus Venedig zurück und gewährt Richard Asyl in seiner Wohnung. Richard wundert sich, dass Henry für alle Kosten der Reise aufgekommen war und Bunny sogar noch auf Henrys Kosten länger bleiben konnte. Während der selbstgefällige Bunny zurückkehrt, bekommt Richard mit, dass die verunsicherte Freundesgruppe  sich offensichtlich nach Argentinien  absetzen will, da sie unter Drogeneinfluss bei einem Aufenthalt in Francis Villa ihre Gewaltphantasien  bei einem Waldspaziergang auslebten, als ein zufällig angetroffener alkoholisierter Farmer von ihnen getötet wurde. Die Täter machten sich tags darauf auf die Flucht, die Leiche wurde erst einige Zeit später gefunden. Die Polizei steht vor einem Rätsel. Doch Bunny, der beim Spaziergang nicht dabei war, weil er total betrunken war, reimt sich das Tatgeschehen  zusammen und erpresst fortan seine Mitschüler (Deshalb auch die kostenlose Reise nach Italien). Auch Richard durchschaut die Zusammen-hänge und die Täter weihen ihn in die Tatumstände ein. Richard legt für sich ein Schweigegelübde ab. Jedoch Bunny wird immer dreister. Er verdächtigt u.a. Charles und Camilla der Geschwisterliebe. Canilla kontert auf diesen Verdacht: “Du darfst nicht denken, ich schlafe mit meinem Bruder, bloß weil ich nicht mit dir schlafe“ (S.237). Die Gruppe gerät immer mehr in Panik und vor allem Henry entwickelt einen Plan, wie man am besten den Aufschneider beseitigen könnte. Zunächst will man Bunny vergiften, doch das scheint zu leicht aufklärbar. Dann entscheidet man sich für einen geschickt ausgeheckten Wanderunfall.

Bunny ist ein begeisterter Wanderer und Henry will ihn an einer Stelle, die Bunny immer wieder aufsucht, die Klippen hinunterschubsen. Der Mordplan wird vollzogen und Bunny bleibt längere Zeit verschwunden. Polizei und Freiwillige suchen vergeblich nach dem Vermissten. Zunächst bringt man das Verschwinden Bunnys mit seiner Drogenkriminalität in Verbindung. Nach Wochen der Spekulation verkünden die Medien, der Vermisste sei endlich in einer Schlucht gefunden worden. Sofort wird weiter spekuliert: War das Unglück eine Folge übermäßigen Alkoholgenusses? Unter großem Anteil der Öffentlichkeit wird der Schüler „Edmond“ begraben. Seine Mitschüler sind natürlich auch zugegen, Richard beobachtet Bunnys Familie „Corcoran“ genau und wundert sich, wie wenig gerührt diese engsten Verwandten sind. Die Beerdigung ist eben ein formaler Akt und kein Ausdruck tiefster Bestürzung. Die Gruppe kann das Geschehene jedoch nicht verarbeiten. Jeder leidet auf seine Weise. Vor allem Charles verliert die Kontrolle über sich. Er vermutet, dass seine Schwester sich von ihm abgewendet habe und nun mit Henry zusammen lebe. Charles kennt nur ein Gegenmittel: der Alkohol. Er wird ins Krankenhaus eingeliefert. Camilla fürchtet sich vor der Rache des Bruders und dieser ängstigt sich vor Henry. der seiner Meinung nach, ihm nicht nur die Schwester genommen habe und auch sonst zu allen Untaten fähig sei. Richard leidet darunter, dass Camilla nicht bei ihm Schutz und Liebe suche, sondern offensichtlich Henry vorziehe. Dieser gesteht überdies, dass nicht Camilla für ihn Sinn erfüllend  sei, sondern die tot bringenden Gewalttaten an diesem Farmer und Bunny. Prof. Julian vermutet Schlimmes, nämlich die Verwicklung der Gruppe, für die er mitverantwortlich für ihre Sucht nach dem Rausch des Bösen sei. Er will dafür  keine Mitschuld übernehmen und entzieht sich seinen Schülern und kündigt seine Anstellung im College. Henry bezeichnet ihn als Heuchler, ohne jede Spur von Empathie.  Charles kann Henry nicht verzeihen, dass er ihm Camilla genommen habe und er der Lehrer für das rauschhafte Töten in der Gruppe wurde. Er will Henry umbringen. Henry verhindert  gezielte Schüsse, indem er Charles Arm umdreht. Richard wird durch einen Streifschuss verletzt. Charles will nicht aufgeben, Henry ergreift dessen Pistole, drückt Camilla an sich und gesteht ihr seine Liebe, und erschießt sich selbst.

Epilog

Was danach geschah!

Henry war erfolgreich. Die für ihn so langweilige Welt verließ er, ohne zu murren. Der Ich-Erzähler, also Richard, interpretiert den Suizid so: Dass Henry ein Zeichen setzen wollte. Das Leben ist an und für sich sinnlos, nur wer sich konsequent und prinzipientreu verhält, kann dem Dasein den Status des Besonderen verleihen!

Richard ist der Einzige, der in Hampden bleibt. Er schafft den Abschluss und studiert weiter Englische Literatur. Die Schusswunde hinterlässt eine Narbe, - ein Symbol für sein heldenhaftes Verhalten. So findet er viel Anerkennung dafür, dass er Henry vom Suizid abhalten wollte. Zudem erbt er auch noch Henrys BMW. An der UNI arbeitet er nun an einer Dissertation. Mit den Zwillingen schreibt er sich ab und an. Sie leben bei ihrer Großmutter und sorgen für diese.

Francis versucht seine Homosexualität auszuleben. Als sein Großvater davon erfährt, droht er ihm mit Enterbung. So wird er wohl eine Scheinehe mit einer Krankenschwester  eingehen.

Charles durchläuft eine Entziehungstherapie und verliebt sich in seine Pflegerin. Die ist zwar verheiratet, aber beide machen sich auf und davon und nur Camilla hält anfangs noch Kontakt zu den Entflohenen.

Richard macht Camilla einen Heiratsantrag, doch diese lehnt ab. Sie schiebt die Großmutter vor, für die sie zu sorgen habe, Gesteht dann aber: „Wir können nicht heiraten, weil ich dich nicht liebe….weil ich Henry liebe“(S.567). Gegen die Macht des Toten kommt Richard also nicht an. Auch Richard begegnet Henry immer wieder in Träumen und Phantasievorstellungen. In einem Dialog fragt Richard Henry: „Bist du glücklich hier?“… nach kurzer Überlegung antwortet der:“ Aber du bist auch nicht sehr glücklich da, wo du bist“(S. 571)

Am Schluss wird klar: Den Toten gehört die Welt, die Lebenden müssen sich mit einem beschränkten Dasein begnügen!

Wolfgang Schwarz im August 2018