Donna Tartt, Der Distelfink, München 2015

Ein Lesemarathon

Sechs Wochen hat sie uns in ihren Besitz genommen, die wundervolle Donna!
So gehaltvoll und detailversessen hat uns die smarte Amerikanerin in Atem gehalten: 1020 Seiten, alle Achtung! Sie ließ uns teilhaben an ihrer Ausdauer und Raffinesse. Die Quälerei hat sich gelohnt, wir haben gelesen und gelesen, wir haben durchgehalten und waren danach glücklich!

Hier die radikal gekürzte Wiedergabe:

Der Ich-Erzähler berichtet verängstigt aus einem Hotel in der Welterbestadt Amsterdam. Er scheint sich auf der Flucht zu befinden. Theo heißt der junge Mann, wir ahnen kühl, dass wir damit einer tragischen Figur begegnet sind. Er träumt von seiner Mutter, die scheinbare Wiederkehr einer Toten, die Theo noch immer innig liebt. Sie wurde tragisches Opfer eines Anschlages, den Theo überlebte, seine Mutter jedoch nicht. Sie war eine gebildete Frau mit irischen und indianischen Wurzeln. Theo war damals 13 Jahre alt. Der Vater hatte die Beiden verlassen und der Knabe war der Mutter einziger Trost. Zwischen Beiden bestand eine innige Beziehung. Theo galt als hochbegabt, hatte aber in der Schule nur wenige Freunde und wurde zudem von den weniger Begabten und Neidischen häufig gemobbt. Sein einziger Freund Andy“ ist ebenfalls hochintelligent.

 

Die Mutter studierte zunächst Kunstgeschichte, verliebte sich zum eigenen Schaden in einen egomanischen und nur mäßig talentierten Schauspieler. Der spielsüchtige Larry Decker wird in dieser Beziehung zum Leidwesen der Mutter zu Theos Vater. Larry Decker entzieht sich der Verantwortung und macht sich nach wenigen Jahren der Ehe auf und davon, ohne dass die junge Kunststudentin weiß, wohin sich der Drückeberger verzogen hat. In der Schule gilt Theo als Störenfried und als herauskommt, dass er mit einem anderen Schüler in Ferienhäuser eingebrochen war, verweist man Theo der Schule. Mutter und Sohn werden von der Schulleitung zu einer Aussprache einbestellt. Sie haben noch viel Zeit, als sie sich auf dem Weg zur Schule begeben. Die Mutter will die Zeit nutzen und  eine Gemäldeausstellung besuchen. Theo fasziniert dort besonders das Bild „Distelfink“ des Rembrandt-Schülers Fabritius, der einst Opfer einer Explosion in einer Schießpulverfabrik wurde.

Theo begegnet im Museum einem Mädchen, das mit ihrem Großvater die Ausstellung besucht und in die er sich augenblicklich verliebt. Theo will ihr heimlich folgen, doch plötzlich gibt es eine Bombenexplosion und der Junge fällt verletzt  in Ohnmacht. Als er erwacht, entdeckt er den sterbenden Großvater des Mädchens (Pippa). Dicht neben der Unfallstätte liegt zwischen Trümmerteilen das noch intakte Bild des Distelfinks. Instinktiv schnappt er sich das Gemälde und versucht, aus dem Ausstellungsgebäude zu fliehen.

Damit ist die erzählerische Grundlage für die folgenden fast 1000 Seiten geschaffen, denn Theo wird zum illegalen Besitzer des Meisterwerkes „Distelfink“. Die Mutter tot, der Vater verschwunden, Theo ist ein Waise und noch zu jung um wirklich  weise zu sein. Er kommt bei der befreundeten Familie Barbour unter. Die Oberschichten-familie hat allerdings auch eigene Probleme: Der Vater durchlebt gerade ein Burn-out, die Mutter ist sehr diszipliniert und sozial engagiert, scheint alles im Griff zu haben. Andys Geschwister sind jedoch von dem hochintelligenten Neuankömmling wenig begeistert. Trotzdem fühlt sich Theo dank Andy in dieser Familie recht wohl.

Immer wieder denkt er an das Bombenattentat und erinnert sich dabei an Pippa und ihren Großvater, der ihm im Sterben einen Ring zugesteckt hatte. Theo forscht nach Pippa und lernt so den Restaurator Hobie kennen, dessen Teilhaber Pippas Großvaters war. So erfährt er auch, dass Pippa den Anschlag mit einer schweren Kopfverletzung überlebt hat, aber   seitdem an heftigen motorischen Störungen leidet und in einem Schweizer Internat untergebracht ist. Dort wird sie offensichtlich neuro-therapeutisch behandelt. Neben der Freude, dass Pippa noch lebt, erfährt er aber auch, dass Pippas Mutter vor langer Zeit verstorben ist.

Hobie weiht Theo in die Fertigkeiten des Tischlerhandwerks ein. Hobie und Theo schätzen sich und Pippa stellt ein zusätzliches Bindeglied dar. Als Pippa nach New York zurückkehrt, spüren beide ihre tiefe Zuneigung, doch Pippa soll künftig bei einer Stieftante wohnen, so dass sie erneut getrennt werden. Neben Hobie ist nun das Distelfink-Gemälde Theos einziger Trost. Plötzlich taucht auch noch Theos Vater mit seiner Geliebten Xandra auf. Sie wollen das Erbe der Mutter und das Erziehungsgeld für Theo vereinnahmen. So muss Theo New York und die Familie Barbour verlassen. Es erfolgt der Umzug nach Las Vegas.
Ein neues Kapitel im Leben eines unglücklichen Jungen beginnt: Vater Larry und Xandra erweisen sich als katastrophale Erzieher. Trotzdem entwickelt Theo auch positive Gefühle zu seinem Vater. Larry und Xandra leben in einer verlassenen Siedlung außerhalb von Las Vegas. Die Wohnung ist verwahrlost und Theo merkt schnell, dass die vermeintlichen  Erzieher drogen- und spielsüchtig sind. Sein einziger Trost ist ein Malteser Hund, den Xandra angeblich bei einer Tombola gewonnen hat.

Als Theo wieder die Schule besucht, lernt er den russlandstämmigen Boris kennen, dessen Vater als Bergbauingenieur in vielen Ländern der Welt tätig war und sich nun um eine amerikanische Mine kümmert und dabei fast vergisst, dass er auch noch einen Sohn zuhause hat. Kein Wunder, die beiden vernachlässigten Jungen werden zu Kleinkriminellen, mit gewissem Erfolg. Theo versucht, den Kontakt zu Pippa aufrecht zu erhalten, ansonsten geht es mit ihm immer weiter bergab. Vater Larry erweist sich als gewalttätig, ist hoch verschuldet und versucht hinterlistig an Theos Erbe zu gelangen. Der Nachlassverwalter durchschaut ihn jedoch und kann so Theos Zukunft sichern. Vater Larry ist nun einem skrupellosen Geldverleiher ausgeliefert und weiß nicht mehr ein noch aus. Larry Decker provoziert einen Autounfall, wahrscheinlich um sich zu töten. Der Suizid gelingt und Theo verlässt Las Vegas  und fährt mit dem Bus nach New York. In einem Korb hat er seinen einzigen wahren Freund versteckt: seinen Hund Popper. Kaum 17jährig ist Theo bereits drogenabhängig. Hobie gewährt ihm Unterschlupf und seine Stimmung verbessert sich, als Pippa zu Besuch kommt. Theo besucht ein College und arbeitet sich in den Kunsthandel ein. Er nimmt wieder Kontakt zur Familie Barbour auf. Die früher so kühle Mutter Andys freut sich riesig über das Wiedersehen. Überaus schmerzhaft für ihn ist zu erfahren, dass Andy und dessen Vater bei einem Segelunfall ums Leben gekommen sind. Andys Schwester und Theo verlieben und verloben sich. Theo ist mittlerweile ein gut verdienender Kunsthändler. Das Gemälde des Distelfinks verwahrt er in einem Safe einer Sicherheitsfirma. Mit zwielichtigen Geschäften, hauptsächlich Fälschungen, sichert er Hobies und seine eigene Existenz. Theo hält an seiner Absicht fest, Kitsey Barbour zu heiraten, da die Vegetarierin Pippa mittlerweile mit einem gleich gesinnten Mann zusammen lebt. Ein Krimineller, vermutet, dass Theo das im Besitz des Distelfink-Gemäldes ist und er versucht, Theo zu erpressen. Auch Hobie erfährt von Theos Handel mit gefälschten Antiquitäten. Trotzdem hält er zu ihm und umgekehrt verspricht Theo die Fälschungen zu einem erhöhten Preis zurückzukaufen. Es beginnen die Hochzeitsvorbreitungen, doch Theo quälen Zweifel. Kitsey erscheint ihm zu schwatzhaft und oberflächlich. Andererseits tut es ihm gut zu wissen, dass Andys Mutter von Theo sehr angetan ist und ihn als Andy-Ersatz ansieht. Trotzdem fühlt sich Theo leer und verlassen.

Dann taucht unerwartet Boris, sein alter Las Vegas–Freund auf. Der verhält sich so, als ob er eine alte Schuld abzutragen hätte. Zögernd gesteht er Theo, dass er damals das Fabricius-Bild aus dem Schulspind gestohlen und gegen eine Fälschung ausgetauscht habe. Mittlerweile sind ahnungslose Kleinkriminelle im Besitz des Kunstwerks. Er wolle versuchen, das Bild zurückzukaufen. Als ob diese Schreckensnachricht nicht genüge, muss Theo auch noch erfahren, dass Kitsey ihn mit ihrer Jugendliebe, einem hemmungslosen Don Juan, betrüge, sie aber wisse, dass dieser Filou für keine Ehe tauge. So steht es also pari: Sie liebt den Casanova und er Pippa. Pippa wiederum will offensichtlich wegen ihrer erheblichen motorischen Störungen Theo die Ehe mit ihr ersparen. Unter diesen Voraussetzungen ist das ersehnte Glück für die drei unerreichbar. Boris will seine Schuld abtragen und bittet Theo ihn für den Rückkauf des Gemäldes nach Antwerpen zu begleiten. Dem augenblicklichen Besitzer, ein gewisser Sascha, sei die Angelegenheit über den Kopf gewachsen und er fürchte um sein Leben, wenn die Kunst-Mafia ihn ausfindig mache. Theo begleitet also Boris in die Niederlande. Dort arrangiert Boris ein Übergabetreffen mit den Mafiosi. Theo überprüft die Echtheit des Bildes. Die Diebe sind in Sachen der Kunst offenbar Amateure und Boris zwingt sie mit Waffengewalt zur Übergabe des Bildes. Später werden sie von einem Killer verfolgt. Bei einer Schießerei wird Theo verletzt , schnappt sich aber die von Boris fallen gelassene Pistole und erschießt den Killer. Während des Kampfes entwendet ein Küchengehilfe das Gemälde. Der verletzte Theo flieht ins Hotel und versucht dort seine Verletzungen auszukurieren. Er schreibt Abschiedsbriefe an Kitsey, Hobie und Pippa. Dann unternimmt er einen Suizidversuch, der aber misslingt. Boris taucht wieder auf und beruhigt Theo. Der Mord am Killer Martin war Notwehr und das Bild hat er dem Küchenjungen wieder abgenommen. Das Bild habe er dem Museum zurückgegeben und eine hohe Lösesumme erhalten, die er Theo geben will. Theo aber teilt sich das Geld mit Boris und fliegt zurück nach New York. Dort entschädigt er seine betrogenen Antiquitäten-Käufer. Die Verlobung mit Kitsey ist noch nicht gelöst, aber ob daraus eine Eheschließung wird, erfahren wir nicht. Pippa leidet unter starken psycho-somatischen Störungen und will Theo nicht mit einer so geschädigten Frau belasten. So kommt das vom Leser erhoffte Happyend also nicht zustande.

Nachbetrachtungen

Der „Distelfink“ ist vor allem ein Entwicklungsroman. Er schildert den Werdegang des hochbegabten Theo Decker beginnend mit seinem 13.Lebensjahr bis zum 30jährigen Erwachsenen. Wie schon im 18.Jahrhundert z.B. in Karl Philipp Moritz Roman „Anton Reiser“ ist der entwicklungspsychologische Roman auch eine interessante Milieustudie. Bei Donna Tartt wird die obere Mittelschicht moralisch als widersprüchlich und tendenziell kriminell oder pathologisch veranlagt dargestellt. Leitmotivisch wird die Milieustudie um eine kunstgeschichtliche Dimension ergänzt. Kunstraub und krimineller Kunsthandel sind uns heutzutage ja nicht unbekannt, doch in Form eines Entwicklungsromans eher weniger vertraut. Tiefenpsychologisch behandelt die Autorin höchst differenziert und empathisch  den Versuch der Trauma- Verarbeitung in der Liebesbeziehung von Theo und Pippa. Ausführlich wird auch die Bedeutung einer Männerfreundschaft innerhalb der Schicksalsgemeinschaft von Theo, Andy und später Boris beleuchtet. Pippa übernimmt die Rolle der ersten Liebe, der Theo lebenslang nachhängen wird. Beide verbindet das Trauma, den jeweils liebsten Menschen verloren zu haben: Theo seine Mutter und Pippa ihren Pflegeonkel Welty. Trotz der starken Mutterliebe verbessert sich in der Lebensgeschichte Theos allmählich die Beziehung zum Vater, freilich ohne die Intensität der inneren Abhängigkeit zur Mutter zu erreichen. Theo entdeckt aber immer mehr Ähnlichkeiten zwischen seinem Vater und sich selbst. Insgesamt besitzt die Bindung von Mutter und Sohn Theo eine leitmotivische Funktion. Das eigentliche Leitmotiv des Romans wird aber durch die Titelfigur „Distelfink“ bestimmt. Im Gemälde erleben wir den kleinen Vogel als ein anrührendes und irgendwie verlorenes Wesen, das schon bei der Betrachtung Mutter und Sohn fasziniert und Theo später weiterhin Trost spendet.

In der Heimat des Künstler Fabritius (Niederlande) findet Theo zur Redlichkeit zurück. Zudem gibt es dabei Gemeinsamkeiten mit dem Schicksal des historischen Fabritius: Der Rembrandtschüler starb infolge einer Explosion in seiner Heimatstadt Delft. Bei Donna Tartt ist es ein Terroranschlag in einem Museum in New York, sicherlich auch eine Anspielung auf den Anschlag auf das World-Trade-Center und damit auf ein Symbol des westlichen Kapitalismus.

Der Roman ist fesselnd, lehrreich, sprachlich anspruchsvoll und trotz seines Umfanges fast immer spannend. Unsere Anstrengungen haben sich gelohnt und viele im Literaturkreis möchten durchaus noch ein weiteres Werk der Autorin lesen. Dieser Wagemut ist durchaus nachvollziehbar, schließlich gibt es nur insgesamt 3 Werke von ihr und das, obwohl sie sich bereits seit über 25 Jahren schriftstellerisch betätigt.

Wolfgang Schwarz im April 2018