Nachlese zu Stefan Zweig V

Ein unveröffentlichter Roman: Stefan Zweig, Rausch der Verwandlung (1931)

Momentaufnahmen 1926

Kassel:

Die „Elsa“ tuckert seit 30 Jahren auf der Fulda. Auf dem Oberdeck sommerlich gekleidete, froh gestimmte Menschen; die Ufer grün, der Dampfer gelegentlich an gerüst-umzäunte, kühle Flussbäder vorbeiziehend. Die Reichsmark rollt wieder. Auch unbegabte Kasseler finden Arbeit. Alles scheint in Ordnung. Der Kaiser adé und nun gibt es wieder Hoffnung. Der alte Wilhelm flucht: An allem ist Ludendorff schuld und dies blöde Locarno, der Völkerbund, und dieser Stresemann ergattert den Friedensnobelpreis. Und das im Land der Dichter und Denker!

 

Berlin schnuppert an den „Roaring Twenties“. Und was passiert in einem der schönsten Länder der Welt? - Österreich fällt zurück, daran kann auch Stefan Zweig nichts ändern.

Nahaufnahme:

Wer austrische Ödnis kennen lernen möchte, lenkt seinen Blick auf die dortigen Postämter, aber selbst da entdeckt ein weltberühmter Schriftsteller und dezenter Frauenliebhaber hinter der Glasscheibe ein sympathisches Mädchenprofil: die Heldin eines fragmentarischen Romans. Sie, Christine Hoflehner, später vorübergehend Christine von Boolen, so arm, aber Nichte des steinreichen holländisch-amerikanischen Baumwollmaklers van Boolen, ein begnadeter Händler und Raucher. Der Autor, unnachsichtig und herablassend, nennt ihn einen „unbeträchtlichen Mann“(S.13).

Dann aber beginnt Christines Rollentausch von der armen Nichte zur „reichen Hochstaplerin“.
(– Lieber Leser, nehmen Sie´s nicht so genau, mit der logischen Widersprüchlichkeit der Wortbildung! –)

Tante Claire, eigentlich Klara, van Boolen will auf ihrer Europareise ursprünglich die lange vergessene Schwester, also Christines Mutter, in den mondänen Schweizer Ferienort Pontresina einladen. Aber die Mutter ist krank, vorzeitig gealtert und schickt deshalb lieber die geliebte, jüngere Tochter zu den reichen Verwandten.

Die Christel von der Post sinniert, die traurige Kindheit, der Tod des Vaters im 1.Weltkrieg, die Familie in einem „schwarzen Loch“, so arm, trotz ihrer Schönheit will kein Dörfler sie. 28 Jahre alt und schon alles vorbei? Jetzt oder nie, ab in die Schweiz, dort wo die Reichen flanieren, sich amüsieren. Die Tante hält den Schlüssel zu einer anderen Welt in der Hand. Zum Abschied begleitet sie der Dorfschulmeister, halbwegs alt, verschüchtert, mit einer tuberkulösen Frau verheiratet. Nach deren Tod würde er Christine nehmen. – Immerhin, aufgebrühte schöne Aussichten! Die zweite Frau eines armen Dorfschullehrers, und wo bleibt das Glück? –

Die Welt öffnet sich auf einmal, das Reisen befreit, den Reichen entgegen, das Land so schön. Sie kommt fast ohne Gepäck, aber sie spürt das Andere, das Freie, das Leichte, das Sorglose. Im Hotel die erste Lüge: Das Gepäck kommt hinterher. Anpassen bedeutet hier Hochstapeln. Selbstkritik nach dem Blick in den Spiegel: „Einschleimerin, weg da! Schmutz macht das Haus an!“(S.51). Die Schickeria weiß es längst: Die Schönheit der Frauen ist eine Frage der Mode, am besten Kleider aus Paris. Christel schämt sich ihrer abgetragenen Klamotten und die Tante schämt sich mit ihr. Sie spendet und kauft, nun gehört auch Christine dazu. Aus Christine Hoflehner wird Christine von Boolen. So erobert sie die Herzen der Eitlen und Beschränkten. Wieder vor dem Spiegel: „Ich bin schön!“ (S.69), das erste Mal im Rausch, im Rausch der Verwandlung. Schon kommt ein männliches Spiegel-Ich, ein hoch gewachsener Blonder, ein Norddeutscher, schön wie alle Männer aus der norddeutschen Tiefebene. Ergänzt wird er durch einen englischen kriegsverwundeten General, die Auswahl ist groß. Der General führt sie spazieren, der kühne Blonde jagt im offenen Cabriolet mit ihr über die Berge, welche Aussichten! Der General fühlt sich jung, doch der Hüne bekommt den Zuschlag. Christine fragt sich: „Wer bin ich eigentlich?“ (S.110). Der Onkel sorgt sich, zu recht. Fast hätte der Hüne die arme Christel verführt. Das macht das Spiel für ihn noch reizvoller und Christine weiß, das nächste Mal, wird sie den Rausch der Verwandlung auskosten: „alles nehmen, alles genießen, alles, alles…“ (S. 131). Doch da gibt es eine Rivalin, zuvor umworben von dem germanischen Helden. Das raffinierte Luder entschlüsselt ihr Geheimnis: die niedrige Geburt, ihre Armut. Entlarvt, verleumdet, zum Gespött der hirnlos besseren Kreise! Auch die Tante fürchtet um ihren Ruf, fürchtet Nachforschungen wegen ihrer eigenen Person, Geheimnisse, von denen der Aufsteiger van Boolen nichts ahnt: der lockere Lebenswandel mit Folgen im lebensfrohen Wien der Vorkriegszeit, die Flucht nach Amerika. Mit der Nichte taucht auch das Schreckgespenst der Klara Hoflehner auf! Nur der alte Lord, der General fühlt sich als Beschützer, träumt von einer englischen Zukunft mit Christine. Doch Liebe lässt sich nicht erzwingen, so stirbt auch die Hoffnung auf England, auf die weite Welt. auf das Leben in der High Society. Die Tante jagt sie von dannen, und Christine weiß nicht warum.

Zurück in die schreckliche Vergangenheit. Die Mutter stirbt, die mittellosen Verwandten nehmen, was sie kriegen können. Das Postamt ist nicht mehr ihre Heimat, sie ist eine Fremde in ihrer alten Welt, Frust und Erinnerung.

Bei ihrer Schwester begegnet sie einem weiteren Ausgestoßenen, einem Spätheimkehrer aus dem Krieg, in ihm gärt es, die Wut, die Revolte. Es scheint möglich, ein Bündnis, ja Liebe der Ausgegrenzten, doch selbst da, nur Hindernisse und Frustrationen. Dann der Plan, die Rache, alles auf eine Karte setzen: Die Geldeinlagen in Christines Postamt stehlen! Ferdinand, ihr auf der Strecke gebliebener Geliebter, plant Raub und Flucht, es droht ewiges Verfolgt-sein der Beiden vom Leben so enttäuschten.

Kapitulation:

Der Autor will nicht mehr, weiß nicht weiter, steckt das Manuskript 1931 in die Schublade, gibt 1934 endgültig auf. – Warum?

1934 erlebt Stefan Zweig ein Wechselbad der Gefühle. Er fürchtet um sein Leben, denn der Faschismus ist auch in Österreich nicht aufzuhalten, die Emigration nach London bedeutet eine zusätzliche Verunsicherung. Die Liebe zu Lotte Altmann ist durchaus zwiespältig, er schwankt zwischen Hochstimmung und Depression. Könnte er unter diesen Voraussetzungen ein so düsteres Ende des Romans überhaupt verkraften?

Auch Ferdinands Plan des Überfalls führt in eine Sackgasse. Die Hauptlast hätte das arme Mädchen Christine zu tragen. Wäre der Überfall fingiert und der Täter mit einer Maske versehen geplant, die Flucht wäre Erfolg versprechender gewesen. Die Verängstigte hätte als Opfer, vielleicht sogar verletzt, nicht als Täterin dagestanden.

Wahrscheinlich waren es aber die depressive Grundstimmung und Überforderungsgefühle, die Stefan Zweig zur Aufgabe des Projektes veranlasst hatten.

Was so grandios begonnen, verschwindet letztlich in der Versenkung. Es ist wie oftmals im Sport: Die Überanstrengungen in der Vorbereitungen verhindern den großen Wurf im Wettkampf, den Sieg im Kampf der Gladiatoren.

Hiermit endet die Stefan Zweig-Nachlese. Wer Spaß daran gehabt hat, kann sich schon auf den nächsten Text freuen: Stoner, Biographie eines Gemäßigten.

Wolfgang Schwarz, 17.08.2015