Nachlese zu: Stefan Zweig, Die Welt von Gestern

I. Stefan Zweigs Faible für die Vaganten-Dichter

In seinem letzten Werk vor dem selbst gewählten Tod mit seiner zweiten Ehefrau Lotte Altmann erwähnt der Bestseller-Autor in seiner Autobiographie viele Orte und Personen, die heute kaum noch bekannt sind. An zwei Künstler, soll hier erinnert werden: Peter Hille, der vor seinem Vagabundenleben seine Kindheit in unserer schönen Heimat bei Warburg verlebt hat und der es hier trotz der vielen Berge, des frischen Grüns doch nicht aushielt und sich auf und davon machte, die Welt zu sehen und zu erleiden, der Andere, der Jahrhundertdichter Paul Verlaine, ein Franzose, der sich mit der Banalität des Seins einfach nicht abfinden konnte.

Stefan Zweig, aus reichen jüdischen Elternhaus stammend, ein Lastenträger familiärer Erwartungen, hegte eine besondere Verehrung für bedürfnislose, gescheiterte Menschen, die sich trotz aller Widrigkeiten der Schönheit des Lebens, des Augenblicks hinzugeben vermochten. Solche armen, aber sinngesteuerten Lebenskünstler gab es auch unter den zeitgenössischen Dichtern, die für ihre Kunst lebten und starben. Er selbst schätzte von diesen besonders Verlaine und Peter Hille. Auf der ersten Etappe seiner Entdeckungstour des „wahren Lebens“ in Berlin suchte er in Bohemienkreisen bewusst solche Existenzen.

Eine besonders liebevolle Beschreibung eines obdachlosen Dichters und Wander-gesellen findet sich in „Die Welt von Gestern“ auf der Seite 138f. Dort beschreibt er Peter Hille kurz vor dessen Tod 1904 im Künstlerkreis „Die Kommenden“, deren bekannteste Vertreter Rudolf Steiner und Peter Hille waren.

Da „saß wie ein Weihnachtsmann ein alter graubärtiger Mann, von allen respektiert und geliebt, weil ein wirklicher Dichter und wirklicher Bohemien: Peter Hille. Dieser Siebzigjährige blickte gutmütig und arglos … im zerfransten Anzug … (und) schmutziger Wäsche … (holte auf Drängen der Anwesenden) aus seiner Rocktasche zerknüllte Manuskripte hervor, um seine Gedichte vorzulesen … er hatte niemals Geld. Obdachlos, mal hier mal da zu Gast … ein echter Waldmensch … sorgloser und freier dank seiner dichterischen Traumhaftigkeit“.

Auch wenn Zweig einen greisen Mann (ein Siebzigjähriger, o Gott) zu beschreiben scheint, so ist Hille zu diesem Zeitpunkt doch erst 50 Jahre alt. Er musste seinem Vagabundenleben Tribut zahlen und starb wenig später an den Folgen der Auszehrung und Tuberkulose. In der Boheme wurde allerdings das Gerücht verbreitet, dass er Opfer einer Gewalttat geworden war. Ein abenteuerliches Leben muss auch abenteuerlich zugrunde gehen!

Peter Hille wurde, gar nicht weit entfernt von unserem Literaturkreisdomizil, 1854 in der Nähe von Driburg geboren. Sein Vater war Rentmeister und Lehrer und der kleine Peter bereitete ihm viel Sorge. Das Warburger Progymnasium schaffte er gerade noch, scheiterte dann aber auf dem Gymnasium in Münster kläglich. Der Beruf des Protokollschreibers behagte ihm nicht und so entfloh er seiner ostwestfälischen Enge und wanderte zu Fuß nach London und später quer durch ganz Europa. Mittellos versuchte er sich durch Bettelei und Gelegenheitsarbeiten durchzuschlagen. In den Kulturstädten fand er häufig Gönner, die ihm solange Unterkunft gewährten, bis sie sein Messie-Dasein nicht mehr ertragen konnten oder der Literaturvagabund selbst das Weite suchte.

Ironisch nimmt Hille seine Hungerexistenz auf die Schippe: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Wer nicht arbeitet, soll speisen. Wer aber gar nichts tut, der darf tafeln.“ (Peter Hille, Ich bin, also ist Schönheit, Leipzig 1981, S.107).

In einigen seiner Aphorismen spiegelt sich treffend die eigene Persönlichkeit des mittellosen Weltenbummlers wider: Hille besaß sicherlich Talente, tummelte sich aber nicht auf dem Buchmarkt und wurde so von anderen Schriftstellern auch nicht als Konkurrent angesehen. Er konnte mit Fug und Recht sagen: „Ich habe keinen Feind als in mir selbst“ (Hille, S.140). Er liebte die Sprache und Literatur über alles, „Die Sprache ist der Frühling des Geistes: Grün ist die Zunge des Maien“(S.109).

In seiner kurzen Autobiographie schreibt er über sich selbst: 

Ich bin geworden, weiß nicht wie. Ich bin nahe den Dingen, darum bin ich ein Dichter. Was ich will, muss mehr sein, als was ich leide. Was habe ich daneben gedacht! Die letzten Gedanken! Ich komme zu keiner Befreiung, zu keiner Erlösung, weil im Leben nicht, so auch in der Dichtung nicht. Auch zu schwerfällig, zu ungelenk zur Brotarbeit. Ich will lieber ein Agitator sein; ein Agitator kommt ohne Unsinn nicht aus, wenn für sich, so doch für die Menge nicht.

Ich habe zu viel Peripherie, mir fehlt das Zentrum. Ich habe zu viel studiert und gestrebt; was gut, was Ruhen ist und bedeutend und wert ist, ich weiß es nicht mehr. Ein Irrenhaus von Dichtern und Kritikern; ich will lahm gehen!…

Ich will nicht loben, was nicht Bestand hat, und ich will nicht gelobt sein; nur wünsche ich die Anerkennung, dass ich auf dem rechten Wege bin, durch bewährte Männer, die denselben gehen. Das gibt Mut und Gesellschaft. Ich wünsche meine Leistungen anerkannt und meine Fehler gerügt. Nur innerhalb der Wahrheit kann ich vergnügt und ruhig sein. Ein Zusammenordnen, zusammenfinden soll aus Schreiben, Lesen und Beurteilen hervorgehen.

Aus unserem Herzblut muss die Dichtung kommen. Es spricht das Wort, es wird mächtig in meiner Seele, von allen Seiten, es erhebt sich und könnte mir noch Glück bringen.“ (S. 158)

Aufgrund seiner Selbstgenügsamkeit beschreibt ihn Else Lasker-Schüler in ihrem Nachruf als Heiligen:

Ich schreib ein ganzes Buch über Peter Hille und noch so vielerlei und einmal einen Essay, der hieß: Warum Peter Hille unsichtbar war? Ob es mir gelang, seine göttliche Eigenschaft den Lesern zu offenbaren? Fast jeder zumutet sich, nur zu glauben, was das Auge sieht, mit dem Ohre hört, und dem Gefühl des Herzens misstraut er. Nur wenigen kündet ein starker gläubiger Nerv entrückte Stunden. Niemals zweifelte ich an der Prophetie Peter Hilles. Er wandelte über unsere Erde wie Nebel, durch den, wenn er sich lichtete, man Gestirne am Tage leuchten sah. Er war ja selbst ein Gestirn, Meteor stieß er von sich! … Selbst an die Wunder, die heilige Menschen verrichteten – gewöhnte man sich. … Peter Hille war einer der auserlesenen Gäste dieser Welt; wohin sein Herz sich wandte, ordneten sich Unebenheiten. Sein Erscheinen schloss Versöhnung in sich.“ (S.219) 

Zum Schluss möchte ich selbst noch einige schlaue Bemerkungen über das Verhältnis von Eitelkeit und Bettelei loswerden:

Wir werden allzu leicht Opfer unserer Ruhmsucht. Davon war Peter Hille frei, so dass er hätte sagen können: „Wer Ruhm sucht, zweifelt an seinem Nachruhm“. Ein solches Verlangen kannte der Literaturvagabund offensichtlich nicht. Selbst seine dezente Bettelei machte ihm keine Sorgen. Dabei bedeutet doch diese Existenzform scheinbar die Abkehr von jeglicher bürgerlicher Tugend. Dem ist aber nicht so, da viele doch nur eine Maske tragen und ständig um Anerkennung und unser Mitleid flehen, selbst wenn sie nicht auf der Straße sitzen und sich im bürgerlichen Gewande kleiden. Letztlich ist auch diese Form ein Ausdruck von Selbstaufgabe. Und solche Unterwerfungsgesten kannte Peter Hille nicht, er musste sich nicht schämen, denn er war gerade in seiner Bedürfnislosigkeit er selbst, und so bewahrte er auch seine Würde. - Ein Zweig wächst nur an einem Ast und auch dieser bedarf eines Stammes. -

Wolfgang Schwarz, 27.5.2015