Die Vater-Sohn-Beziehung im Spiegel der autobiographischen Schriften des Schweizer Autors Urs Widmer

 

In unserem Literaturkreis haben wir uns mit dem z. Zt. wohl bedeutendsten Schweizer Schriftsteller Urs Widmer beschäftigt. Gegenstand unserer Betrachtungen waren die fiktiven autobiographischen Romane „ Das Buch der Vaters“ (Zürich 2004) und „Der Geliebte der Mutter“ Zürich 2000).

Wer sich näher mit dem Werk Urs Widmers beschäftigt, wird feststellen, dass der Autor häufig offen oder versteckt autobiographische Bezüge herstellt. Vor allem die z. T. traumatischen Erlebnisse seiner Kindheit werden in mehreren Erzählungen und Romane mystifiziert (z.B.  „Die sechste Puppe im Bauch…“, „Ein Leben als Zwerg“,„Herr Adamson“, „Erinnerungen an Schneewittchen“ usw.)  Zur Vergewisserung des Wahrheitsgehaltes empfiehlt sich die Lektüre der Autobiographie „Die Reise an den Rand des Universums“ (Zürich 2013). So wird vor allem „Das Buch des Vaters“ für den Leser verständlich. Liebe, Tod, Lebenssinn und Hoffnung werden in diesem Roman als Leitmotive verwendet und kunstvoll, aber auch ein wenig undurchsichtig miteinander verschachtelt. Die zahlreichen Erinnerungssequenzen verdeutlichen die seelischen Befindlichkeiten des Kindes Urs. Vor allem bedrücken den Leser die  visualisierten frühkindlichen Ängste, die nach eigener Angabe des Autors über 20 Jahre angehalten haben ( Reise a. d. U … S. 228).

 

 Im Folgenden möchte ich mich primär auf die Vater– Sohn– Beziehung beschränken.

 Urs Widmers Vater war der bekannte Romanist, Übersetzer und Literaturkritiker Walter Widmer (1903 – 1965). Der Vater war ein völlig unpraktischer und eigentlich lebensuntüchtiger Zeitgenosse, der ausschließlich in der Welt der Literatur und Kunst lebte. Akustisch nahm der Sohn seine Existenz nur durch das ständige Klappern der Schreibmaschine wahr. Walter Widmer war wie viele Narzissten ein Perfektionist, der ständig um das richtige Wort rang und Kollegen/innen, die diesem Anspruch nicht genügten überaus kritisch begegnete, ihnen häufig Verlogenheit und Gefallsucht vorwarf. Der eigene Anspruch verhinderte wahrscheinlich auch, dass er seinen Lebenstraum, einen Roman zu schreiben, nie ernsthaft zu verwirklichen versuchte.

Urs stand lange im Schatten seines übermächtigen und kritischen Vaters und er wagte erst 3 Jahre nach dessen Tod ein literarisches Werk zu verfassen. (Die erste Erzählung „Alois“ (1968) ist auch als ein Aufbegehren zu verstehen. War dem Vater höchste Sprachdisziplin ein unverzichtbares Muss für jeden Dichter, so verweigert sich der Sohn in slapstickartigen Handlungsabläufen, mit abrupten Sprüngen im Stil und auf der Erzählebene diesem Diktum. Die Erzählung kennt keine handlungstragende Hauptfigur, unvermittelt treten Comic-Figuren auf, um augenblicklich wieder zu verschwinden, klare Motive sind nicht zu erkennen, die Verwirrung des Lesers ist Programm. Seine Montagetechnik erinnert vor allem an James Joyce, dem mit „Ulysses“ und Finnegans Wake“ eine wahre Sprachrevolution gelang. Widmer bekennt sich mit folgen Worten zu seinem Vorbild: „Ich bin dankbar, dass mir James Joyce dies abgenommen hat“ ( „Vom Leben, vom Tod und vom Übrigen, auch dies und das“, Zürich 2007).

Mittlerweile scheinen aber dem guten Urs Zweifel gekommen zu sein, schreibt er doch jetzt viel gesitteter und nachvollziehbarer. Dem Prinzip des Ungleichzeitigen im Gleichzeitigen ist er aber bis zum heutigen Tage treu geblieben.

Seine Wurzeln sieht Urs Widmer eher in der Familie der Mutter aufgrund seiner motorischen Neigungen und entsprechender Aktivitäten, damit verbunden sind aber auch die psychischen Probleme, die er als sein mütterliches Erbe betrachtet. Die Familie des Vaters bezeichnet er dagegen als „Sterbefamilie“ (vgl. „Bildnis der Eltern als junges Paar“, in: Gesammelte Erzählungen, Zürich 2013, S. 625). Um die körperlichen Leiden ertragen zu können, wird der Vater zum Süchtigen (Nikotin, Tabletten und Kaffee, aber kein Alkohol). Er schildert den Vater als klein und lustig, gefürchtet wegen seiner cholerischen Ausbrüche. Den Gegensatz von Mutter und Vater im Praktischen charakterisiert er ironisch: „Er gab Hunderte als Trinkgelder, Mutter dagegen kannte die Tagespreise für Petersilie“ (Bildnis … S. 627). Dem Vater zeigt er sich durchaus dankbar. Ist er doch auch Steigbügelhalter für seine berufliche Karriere und mitverantwortlich für den Erfolg in seinem Schummelabitur. Urs, mathematisch völlig unfähig, wird von einem Freund des Vaters geprüft. Dieser wiederholt die leise gesprochenen Antworten des Prüflings noch einmal laut und schreibt die angeblichen und richtigen Antworten an die Tafel. (Reise … S.119).

Wenn auch seine Liebe eher der Mutter gilt, so bewundert er doch den Vater und teilt auch seine literarischen Interessen. Für Literatur kann sich die Mutter gar nicht begeistern, ihr kulturelles Interesse beschränkt sich allein auf die Musik, vor allem die von ihrem heimlichen Geliebten Paul Sacher.

Insgesamt nimmt es der Autor mit der biographischen Realität nicht so genau. Das wird vor allem im „Buch des Vaters“ deutlich. In dem Roman wird z.B. leitmotivisch die „unerfüllte Liebe“ zu dem Mädchen mit dem Sommersprossen ( S.30 ) eingebracht. Der Vater begegnet der jungen Frau erstmals auf der 12-Jährigen-Feier, einem Initiationsritus in dem Geburtsdorf des Vaters. Später wird die früh Angebetete und nie Vergessene Lyrikerin, die einen Tag vor dem Tod des Vaters eine von ihm veranstaltete Lesung hält und sich dabei als das Mädchen von damals zu erkennen gibt. Tatsächlich war es aber Ingeborg Bachmann, die bei der Dichterlesung auftrat. Sie, eine der bedeutendsten Lyrikerin des 20.Jhdts., war zum Zeitpunkt des Männlichkeitsrituals noch gar nicht geboren und lebte in ihrer Jugend in Österreich. Sie litt zum Zeitpunkt der Lesung heftig unter der zerbrochenen Beziehung zu Max Frisch. Allerdings hat die bachmannsche Herkunftsfamilie aus der österreichisch-slowenischen Region einen ähnlich sozialen Hintergrund wie die des Walter Widmers. Die pseudo-biographischen Elemente des Urs  sind also mit Vorsicht zu genießen. Vergessen wir nicht, dass sie Bestandteile von fiktiven Schriften (Romane und Erzählungen) sind.

Jean Paul formulierte es einmal so: „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“ Das trifft, abgesehen von Alzheimer-Patienten, auch für Urs Widmer zu. Allerdings gab es ja auch das Schreckliche und Angsteinflößende in seinen Erinnerungen. Die Aufarbeitung solcher Erfahrungen durch Literarisierung von Kindheitstraumata zeigt die psychogene Kraft der Poesie.

Diese Möglichkeit der Aufarbeitung hat Urs Widmer erfolgreich genutzt und so dem Leser interessante Einsichten in die eigene innere Lebenswelt gewährt.

 

Literaturkreis I Akademie 55plus Kassel

Wolfgang Schwarz