Patrick Modiano: Im Café der verlorenen Jugend (III)

 

Sein oder Nichtsein? Modiano ein existentialistischer Autor?

2.Versuch:

 

Patrick Modiano wuchs in einer Zeit misslungener Aufarbeitungsversuche heran. Vor allem die europäischen Juden mussten die Folgen barbarischer Verbrechen irgendwie verarbeiten, ohne Chance, es je verstehen zu können. Fast jeder Überlebende und Nachkomme hatte den Verlust von Verwandten zu beklagen. Die Schuld der Täter und ihrer Kinder lastete schwer. Wer Deutscher war, versuchte zu begreifen, was nicht zu begreifen war. Die Lasten der Vergangenheit spiegelten sich in der Kunst, Literatur und Philosophie wider. Das Abhandenkommen der Menschlichkeit wurde vor allem im Existentialismus thematisiert. Bei den französischen Hauptvertretern war dies mit einer Absage an den Gottesglauben verbunden. Die monotheistischen Religionen hatten sich selbst widerlegt und wurden lediglich als Ausdruck eines absurden Denkens angesehen. Dies galt allerdings nicht nur für die Religion, sondern auch für die scheinbare Herrschaft der Vernunft und des Seins. Damit verbunden war zwangsläufig auch ein erheblicher Orientierungsverlust, zwar eine große Emanzipationschance, doch auch die Gefahr des Abgleitens in eine persönliche Sinnlosigkeit: Der Mensch konnte nun selbst entscheiden, was er aus seinem Leben macht, d.h. die Absurdität des Seins gewährte ihm die Freiheit, sich z.B. über Gut und Böse hinwegzusetzen, da solche Werte willkürlich gesetzt schienen. Der aufgeklärte Mensch, so Camus, „weigert sich zu sein, was er ist“(Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, Reinbek 2013, S.23) und das Absurde besteht darin, dass er aufgrund seiner Freiheit und seiner Sinngebungsversuche sich gegen seine eigene Natur aufzulehnen vermochte (ebenda. S.48). Diese Auflehnung nennt Camus eine Revolte gegen die Natur, die der Mensch als eine Art „Selbstbestrafung“ erfährt (S.83). So schließt sich der Kreis: Gott ist ein Sinnbild des Absurden, also der Sinnlosigkeit und damit folgt ihm auch der Mensch, der ja das Ebenbild Gottes ist.

 

Gott hatte als Schöpfer und Gebieter ausgedient und wurde fluchend vom Sockel gestoßen. Moralität hatte sich als Trugbild und Allmachtszuschreibungen erwiesen. So entwickelte sich vor allem in Frankreich in der Nachfolge von Voltaire, Feuerbach, Nietzsche, Marx und Heidegger und unter Führung von Sartre und Camus eine alles in Frage stellende Jugend- und Intelligenzkultur. Camus versuchte dem essayistisch und literarisch eine Stimme zu geben. So erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass der jüdische Nachkriegsautor Modiano das Werk Camus genau kannte und seinem eigenen Erleben einverleibte. Das lässt sich auch in seinem Roman „Im Café der verlorenen Jugend“ an den zwei Hauptmotiven „die verlorene Jugend“ und dem Suizid nachvollziehen. Titel und Verzweiflungstat Loukis legen solche Schlussfolgerung nahe. Der Begriff „verlorene Jugend“ spiegelt so den Sinnverlust und die Absurdität des Lebens und der Moral wider.

Schon in den ontologischen Antworten der Philosophen auf die gewonnenen Erkenntnisse über die Entstehung und Entwicklung des Universums und der menschlichen Spezies war deutlich geworden, dass nicht gezieltes Wollen, Einmalig- und Zwangsläufigkeit das Sein bedingten, sondern Zufall und partielle Notwendigkeit.

Die Theorie des Urknalls widerspricht einer Konstruktion des Nichts, die Entwicklungssprünge zudem der Idee linearer Finalität. Vor allem aber bedeutet das Sein und Werden gleichzeitig Fortschreiten von Entwicklung und Vergänglichkeit. Alles Werden wird immer vielfältiger, aber verliert zwangsläufig an Energie und mündet letztlich in Entropie und Kältetod. - Und der Mensch? In Jahrmillionen entwickelte er in unzähligen Mutationen seine Vernunft, die ihm das Überleben sicherte, aber gleichzeitig die Mittel in die Hand gab, sich selbst zu vernichten. Der Vernunft schuf die Moral, die böse Denkfähigkeit spottete ihrer. Gott hatte das Ruder aus der Hand gegeben, um dem Wahnsinn die Tore zu öffnen. Der von Nietzsche verkündete „Tod Gottes“ fand durch die Kriegsrationalität und dem ihr innewohnenden Wahnsinn im 2.Weltkrieg seine grausame Bestätigung. Die in die Menschen projizierte göttliche Tugend wandelte sich in eine archaische Zerstörungswut und Skrupellosigkeit. Das Denken erwies sich als schlimmster Feind der Moral. Die einzige Gewissheit, die den Menschen aber verzweifeln lässt, ist mithin der Tod.

Nach existentialistischer Auffassung fällt es dem Menschen schwer, an einen leitmotivischen Sinn zu glauben, da am Ende ohnehin der Untergang steht. Louki widersetzt sich diesem Sinnverlust, indem sie zunächst nach individuellen Erfüllungen sucht. Versucht, was alle Menschen versuchen, der Leere ihre Leidenschaft und Gefühle entgegen zu setzen, um die zerstörerische Macht der Sinnlosigkeit mit ihrem persönlichen Glück zu überwinden. Nach Liebe, Lust, Leidenschaft, Freude und Hoffnung sucht Louki. Doch sie scheitert, die Hemmnisse der Kindheit sind zu groß. Leere und Depression begegnet sie mit Rauschgift und Fluchtverhalten, doch in immer kürzeren Abständen folgt die Ernüchterung, die Verzweiflung. Die Erkenntnis, dass alle Maßnahmen nur Versuche der Selbsttäuschung sind, führt zu dem Entschluss, ihrem Leben ein Ende zu setzen, da sie nichts mehr erwarten kann und alles nur noch schwieriger und sie auch ihre Nächsten mit in ihren Sumpf hineinziehen würde.

Louki hat sich sicherlich nicht aus metaphysischen Gründen das Leben genommen, wie es Camus vor allem in den philosophischen Essays „Mythos des Sisyphos“ und „Der Mensch in der Revolte“ eingehend erörtert, sondern es sind ihre psychischen Probleme, die die junge Frau einfach nicht länger ertragen will. Bei Camus, dessen soziale Herkunft in mancher Hinsicht der Loukis ähnelte, entschied dies nicht der Denker, sondern das Schicksal. Sein Leben endete mit 46 Jahren bei einem Autounfall. Wir wissen aber aus seiner Biographie, dass er vor allem in den fünfziger Jahren unter starken Depressionen und Selbstmordgedanken litt. Selbst der euphorische Schub durch die Verleihung des Literatur-Nobelpreises 1957 konnte daran nichts ändern. (Übrigens fand Sartre die Wahl ungebührlich, vielleicht auch ein Grund, dass er als zunächst Zurückgesetzter 1962 den Preis ablehnte.) Der ständige Schaffensprozess, die zahlreichen Liebesaffären trugen wohl auch zu einem Burnout-Syndrom bei. Vielleicht waren es auch Gewissensqualen, die er philosophisch aus Absurditätsüberlegungen als unangemessen ansah, weil er so vielen Frauen, die ihn abgöttisch liebten, so viel Leid zugefügt hatte. (Seine Frau Francine musste deshalb häufig in die Psychiatrie.) Auch Louki wusste, dass sie viele Männer enttäuschte und sie nicht imstande war, deren Gefühle zu erwidern. So entschied sie sich frühzeitig für den Suizid.

Was wissen wir, und wahrscheinlich auch Patrick Modiano nicht, wie viele Männer Louki sonst noch unglücklich gemacht hätte?

So folgt der Autor den Axiomen des Absurden: Ein Mensch stirbt freiwillig, um dem Leben Anderer eine Chance zu geben und seiner eigenen Vergänglichkeit zuvor zu kommen.

Jetzt aber Schluss!

Nobelpreis hin oder her, nun folgt Stefan Zweig! 

Wolfgang Schwarz, 20.5.2015