John Williams, Stoner, München 2014
Roman eines beinahe zu unrecht Vergessenen


Stoner, Biographie eines Gemäßigten


In John Williams biographischem Roman, man könnte ihn auch als Hochschulroman bezeichnen, finden alle Knechte wissenschaftlichen Arbeitens die hinterhältigen Campusstrukturen wieder, die ihnen das Leben an der UNI so schwer gemacht haben.
Im Literaturkreis kamen so manchen Machenschaften und Turbulenzen recht bekannt vor, schließlich haben sich genug durch Studium und Hochschulstrukturen gequält.
Das Wiederentdecken längst vergessen geglaubter Erlebnisse bereitete vielen eine genugtuende Anteilnahme. Geteiltes Leid ist eben auch halbes Leid. Insofern waren die Diskussionen im Literaturkreis auch überaus lebendig und verständnisvoll.
Stoner ist ein sehr gelungenes literarisches Werk  des modernen amerikanischen Realismus mit psycho-philosophischen Dimensionen. Empfindungen und Verhaltensmuster der handelnden Personen werden sehr präzise und glaubwürdig beschrieben, obwohl die inneren Beweggründe nicht unbedingt offen gelegt werden. Gerade aber dieser Grund führte zu den lebhaftesten Diskussionen und Spekulationen. Wollte man ein Fazit aus der Lebensgeschichte des äußerlich schlichten Assistenzprofessors Stoner ziehen, so könnte dies lauten: Geistige und innere Bewegung sind wichtiger und zufrieden stellender als äußere Anerkennung und scheinbar beneidenswerter Erfolg. Diese Aussage führte letztlich auch zu dezent stürmische Sympathiebekundungen im Literaturkreis.

Tathergang:
Dort, wo Büffel und Indianer weichen mussten, Siedler sich niederließen, wo sich Süd- und Nordstaatler mitleidlos bekämpften, 60 km von Columbia in Missouri entfernt, im Gleichklang von Langeweile und Ödniss wurde 1871 William Stoner geboren, die Eltern Farmer, arm und abgehärmt, die Hoffnungen gering. Hier lässt John Williams unseren Helden auferstehen, der Junge, bestimmt zum Erben, zum Arbeitstier, zum Gestalter des sich stets Wiederholendem. Die Rocky Mountains noch weit, doch er ein Gipfelstürmer – Besuch des Kollege in Columbia, zunächst Studien der Agrarwissenschaft -. Dann aber das innere Erdbeben: die Einführung in die mittelalterliche Literatur, die englischen Klassiker, ein Erweckungserlebnis! Stoner wird Literaturwissenschaftler, promoviert, steigt auf zum Hochschullehrer. Die Eltern resignieren, verstehen die Welt nicht mehr, aber lassen den Sohn gewähren, verstehen ihn nicht, doch wollen sein Glück. Archer Schloan, sein Lehrer und Doktorvater, spürt seine Begeisterung, die er selbst schon längst verloren hat, spürt seine Liebe zur Literatur, fördert ihn, wo er nur kann.
Stoners Freund, David Master, von ihm als Satiriker und Gedankengenie verehrt, meldet sich freiwillig im 1.Weltkrieg, um die bösen Deutschen in die Schranken zu weisen. Doch kaum in Europa angekommen, fällt der verehrte Freud und mit ihm die Hoffnung auf das Ungewöhnliche, Auserwählte. Der 2. Freund, Gordon Finch, kehrt unverletzt aus dem Krieg heim und erweist sich als universitäres Organisationstalent, leitet später die Hochschule. Stoner wollte nicht in den Krieg ziehen, überlebt in der Prärie des Mittleren Westens. Die Universität wird sein Schlachtfeld, seine Welt.  

Deutschland besiegt, auch ohne Stoner, da erfasst auch ihn ein verhängnisvolles Schicksal: Er findet seine erste Liebe, eine stolze, aber auch niederträchtige Frau aus bestem Hause. Er übereilt sich. Stellt ihr den bindenden Antrag. Sie, die Narzisstische, überlegt, wägt ab, weiß um ihre Schwächen und Chancen auf dem Heiratsmarkt, nimmt an, aber ohne rechte Gegenliebe -  ein Professor immerhin! Edith will gefallen, ohne Liebe geben zu können, sie ist ein unbeholfene Perfektionistin, ständig kränkelnd und fordernd. Stoner wird zeitweise zum Hausmann und kümmert sich liebevoll um die kleine, stille Tochter. Die standesbewusste Bankierstochter sieht das Eheleben als Pflichterfüllung und Existenzabsicherung. Interesse an der eigenen Tochter lässt sie lange nicht erkennen. Ihre Hobbies wechseln ständig, aber alles ohne Ausdauer, nur in Gesellschaft zeigt sie sich als gute Schauspielerin: die liebevolle Ehefrau, die Interessierte, die Kommunikative, die Verführerin.
1924 stirbt Stoners vom Leben enttäuschter Lehrer Sloan. Stoner ist der Einzige, der bei der Trauerfeier weint. Dann sterben auch noch kurz hintereinander die geachteten, vielleicht gar geliebten Eltern. Edith bleibt der Beerdigung fern. Der Schwiegervater, der Bankier und Spekulant, macht in der Weltwirtschaftskrise bankrott und nimmt sich das Leben. Edith, die Egomanin lebt weiter neben ihrem Professor, auch er spürt kein Verlangen mehr. Edith bleibt lange in ihrem Elternhaus und beschließt ihr Leben zu ändern. Frisch gestylt, im Duft der Frühlingsblüte, kampfbereit, unter dem Outfit der Roaring Twenties verborgen die eheliche Kriegserklärung. Das Elternhaus verlassen, noch einmal die Kindheitserinnerungen durchlebt, will sie sich verwirklichen, ohne Rücksicht auf Verluste. Sie spürt die lange vermisste Energie, schließt sich einer Theatertruppe an. Doch das Feuer erlischt, die Rabenmutter erinnert sich an die Tochter, will sie schaffen nach ihrem Ebenbild. “Ich liebe sie. Schließlich ist sie meine Tochter“ (S.159). Stoner hat zu weichen, ist doch ein passabler Professor! An der UNI aber wütet der Krieg. Fachbereichsleiter Lomax schickt seinen  Doktoranden, ein leicht Verkrüppelter wie sein Doktorvater, um einen Pflichtkurs bei Stoner nachzuholen. Walker, ein geltungssüchtiger, fauler Student spielt den Kreativ-Genialen. Genügt jedoch nicht den Anforderungen eines Oberseminars. Lomax wittert Diskriminierung Behinderter, will sich an Stoner mit der Macht seines Amtes rächen. Die Feindschaft wird Jahrzehnte halten. Doch da ist noch eine Lichtgestalt als Gasthörerin: Katherine Driscoll. Stoner verliebt sich in die schüchterne, gescheite Studentin. Die Dämme brechen und beide wissen, sie sind der Liebe ihres Lebens begegnet. Sie schwelgen in Glückseligkeit, ihr gemeinsames Motto lautet: Lust, Leidenschaft und gemeinsames Lernen. Die Affäre wird ruchbar, Lomax nutzt die Gunst der Stunde, will Katherine der UNI verweisen und auch Stoner eliminieren. Edith wusste Bescheid, ließ ihn aber gewähren. „Midlife-Crisis“, ihr Kommentar. Wie schön, er wird mich jetzt in Ruhe lassen! Katherine und Stoner durchleben wie Tristan und Isolde eine letzte gemeinsame Woche und trennen sich aus gegenseitiger Verantwortung. Was bleibt ist Erinnerung und Gewissheit, der großen und einzigen Liebe begegnet zu sein.
Stoner überwindet langsam die Trennung und erklärt unausgesprochen Lomax den Krieg, düpiert Lomax und schafft es, seinen Gegner in die Knie zu zwingen. Stoner gibt wieder Oberseminare. Er wird an der UNI zum Mythos. Grace, die von Mutter Edith drangsalierte Tochter, versucht, sich vom Elternhaus zu lösen, stürzt sich in Liebesabenteuer mit Folgen. Mit 50 Jahren wird Stoner Großvater, der Vater des Enkelkindes fällt im 2.Weltkrieg. Die Mutter Grace verfällt dem Alkohol und das Enkelkind wächst bei den Schwiegereltern auf. Die Pensionierung steht an, Stoner will zum Verdruss Lomaxs weitermachen, aber da kommt das Todesurteil: Darmkrebs. Stoner nimmt es hin und zieht  Bilanz. Das Leben war beruflich ein Erfolg und er hat im Denken und Fühlen sein großes Glück gefunden, die unverbrüchliche Liebe zu Katherine Driscoll. Mit dieser Erinnerung entschwindet der Literaturprofessor aus der amerikanischen Provinz, aus dem Leben. Edith ist halbwegs verzweifelt: „Was soll ich nur machen, … Was fange ich nur ohne ihn an?“ ( S.343).

Und der Literaturkreis: „ Danke Stoner, danke John Williams, wie schön, dass dieser großartige Roman dem drohenden Vergessen entrissen wurde!“

Wolfgang Schwarz, 10.09.2015