Nachlese zu: Stefan Zweig III

Die Schachnovelle, in: Gesammelte Erzählungen, Frankfurt 1989, S.739 - 796

Als Stefan Zweig das fertige Manuskript der „Schachnovelle“ aus Brasilien an seinen Verleger verschickte, übersandte er gleichzeitig seine Abschiedsbriefe an seine erste Ehefrau Friderike. Lotte und Stefan Zweig hatten sich zum gemeinsamen Suizid in ihrer Wohnung in Petropolis entschieden. Wenige Tage später war der Freitod vollzogen (vgl. Oliver Matuschek, Stefan Zweig, Ffm 2006, S. 354 f). Die Schachnovelle ist also das letzte literarische Werk, das der Autor vollendete. Die Novelle beginnt mit der Beschreibung einer Schiffsreise von New York nach Buenos Aires. Schon auf den ersten Seiten gibt der Erzähler preis, dass sich unter den Passagieren der amtierende Schachweltmeister Czentovic befindet. 

 

Vier handlungstragende Figuren konstituieren das Erzählgerüst. Dabei konzentriert sich das Geschehen im Wesentlichen auf den Wettstreit zwischen dem Schachweltmeister und dem Opfer des Nazi-Regimes Dr. B. Als Erzählform wählt Stefan Zweig die Ich-Form. Die eigenen Erlebnisse des Autors werden dabei deutlich zurückgehalten. So ist das Erzählverhalten weitgehend neutral. Die Informationen über Dr. B. erfährt der Erzähler aus einem längeren Dialog mit dem Naziverfolgten. Die detaillierten Informationen über den inselbegabten Schachweltmeister erhält der Ich-Erzähler von einem namentlich nicht genannten Freund. Ansonsten beruhen die Ereignisse auf Beobachtungen des Erzählers.

Der vermutlich kroatische Schachspieler stammt aus bäuerlichen Verhältnissen und nur durch Zufall entdeckt ein Dorfpfarrer das Talent des Jungen. Seine Fähigkeiten erweisen sich als eine Inselbegabung. Ansonsten sind mehrere Beeinträchtigungen feststellbar. Aufgrund erheblicher Sprachstörungen und mangelnder Empathie ist von einer autistischen Störung auszugehen. Der kulturferne und habgierige Savant leidet offensichtlich unter dem Asperger-Syndrom.

Eine Nebenfigur stellt der reich gewordene Tiefbauingenieur und Ölmagnat McConnor, ein Egomane, dar, der, koste es, was es wolle, eine Partie gegen den Weltmeister spielen möchte. Für 250 $ gewährt dieser ihm eine Gruppen-Partie. Natürlich haben die Passagiere keine Chance, trotzdem fordert McConnor Revanche. Bei diesem Spiel taucht plötzlich ein „Deus ex machina“, nämlich Dr. B. auf. Er bewahrt McConnor vor Fehlzügen, so dass der Weltmeister ein Remis anbieten muss. Bereits für den nächsten Tag wird ein Duell Weltmeister gegen Dr. B. vereinbart. Der Ich-Erzähler erfährt im Gespräch mit dem genialischen Schachspieler, dass dieser mit seinem Vater eine Rechtsanwaltskanzlei in Österreich führte, deren Hauptaufgabe darin bestand, die Vermögensverwaltung von Kirchengütern wahrzunehmen. Nach dem Anschluss an Nazi-Deutschland 1938 wurde Dr. B. von der Gestapo in Isolationshaft genommen, um den Nazis Zugang zum Kirchenvermögen zu verschaffen. - Interessanterweise besitzt dieses Hotelgefängnis „Metropole“ einen klangähnlichen Namen wie Zweigs brasilianischer Exilstandort „Petropolis“. - Dem Wahnsinn nahe kommt durch einen Zufall der Inhaftierte in den Besitz eines Schachbuches mit 150 Meisterpartien. Dies rettet ihm den Verstand: Er lernt die Partien auswendig und spielt, um die nervtötende Redundanz zu vermeiden, gegen sich selbst. So vermag er vorübergehend den Folterqualen zu widerstehen und die Verhöre verlaufen für die Gestapo erfolglos. Die künstlich hervorgerufene Schizophrenie: „Weiß-Ich“ versus „Schwarz-Ich“ führt zunächst zur Spielsucht und dann zur völligen geistigen Verwirrung. Dr. B. wird in ein Hospital eingeliefert und letztlich aus der Haft entlassen. Er flieht aus Europa und befindet sich jetzt auf dem Passagierdampfer.

Bei der ersten Einzel-Partie gegen Dr. B. merkt der Weltmeister die Überlegenheit des Herausforderers und versucht, durch Spielverzögerungen seinen Gegner zu verunsichern. Trotzdem schafft Dr. B. einen triumphalen Sieg. Sofort fordert der Gedemütigte Revanche. Dr. B. merkt, dass er selbst, wie schon in der Haft, erneut einem für ihn gefährlichen Spielrausch verfällt. Trotzdem nimmt er das Angebot an. Wegen der laufenden Spielverzögerungen durch den Weltmeister, steht Dr. B. kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Aufgrund der psychologischen Kriegsführung eilt der Amateur den aktuellen Spielzügen voraus, und bietet voreilig „Schach“, obwohl dazu noch einige Spielzüge auf dem Brett hätten erfolgen müssen. Aufgrund dieses Irrtums und zum Schutz seiner eigenen geistigen Gesundheit gibt er auf und beschließt, künftig nie mehr Schach zu spielen, zumal er während des Spiels schon einen für ihn unerklärbaren, abgrundtiefen Hass gegen Czentovic verspürte und so selbst Opfer einer destruktiven Spielleidenschaft geworden war.

Für den Profi war dagegen die „Folter“ ein legitimes Mittel des Kampfes. Er beendet die Novelle mit spöttischen Worten: „ Schade“, sagte er großmütig. „Der Angriff war gar nicht so übel disponiert. Für einen Dilettanten ist dieser Herr eigentlich ungewöhnlich begabt.“

Die Novelle ist so für Stefan Zweig auch ein weiterer Beleg für das Böse im Menschen. Dieses Perfide und Böse wollten die Eheleute Zweig offensichtlich nicht mehr ertragen. Der Freitod war für sie die logische Konsequenz. Da beide jüdischer Herkunft waren, ist ihnen tatsächlich viel Leid nach der Aufdeckung der faschistischen Gräueltaten erspart geblieben.

Einige Teilnehmer des Literaturkreises waren vom Abgang Dr. B's. enttäuscht. Sie hätten sich über mehr Widerstand und Kampfgeist gefreut, denn so hätte er ein gutes Beispiel gegeben, dass es sich lohne, offensiv gegen List und Böses anzukämpfen.

In diesem Zusammenhang wurde auch der Freitod des Ehepaars Zweig kritisiert, denn die Selbstaufgabe überlässt den Bösen kampflos das Feld und gerade von so einem berühmten Schriftsteller wie Stefan Zweighätte ein positives Signal im Kampf gegen den Faschismus ausgehen können. Die Mehrheit aber lobte den Schluss, denn er dokumentiere ganz besonders die Einsichtsfähigkeit, Würde, innere und äußere Größedes Naziverfolgten Dr. B. Er ging ab als ein Mensch, der seine Grenzen kannte und dem persönliche Wahrhaftigkeit wichtiger war als sieghafte Anerkennung.

Die Schachnovelle“ im Filmclub:
Drei Drehbuchautoren, da bleibt nicht viel von Stefan Zweig. Kurze Einblendungen mit dem arroganten Schachweltmeister (Mario Adorf) und die
hilflosen Gegenspieler, dann der Retter: die Intervention von Dr. v. Basil (Curd Jürgens). Die Rückblende, der Hauptfilm: Ein Frauenheld und Lebemann mit moralischen Grundsätzen im besten Mannesalter, als Gestapoinhaftierter im Hotel; sein skrupelloser Gegenspieler, der feine Gestapo-Chef (H. G. Felmy), Einzelhaft als Foltermethode. Die erfolgsverwöhnte und karrierebewusste Prima Ballerina (Claire Bloom), verkauft sich als Geliebte an Nazi-Chefs, liebt aber eigentlich den Weltmann v. Basil, versucht zu retten, was kaum zu retten ist. Liebe führt zu Reue und mutigem Eingreifen. Imaginärer Schach scheint Basil in der Haft zu retten, dann dreht er aber doch durch. Der Wahnsinnsausbruch verschafft ihn die Freiheit, Irene, die Tänzerin, will sich für v. Basil gar dem eitlen Gestapo-Chef verkaufen. Sie befreit ihn aus den Fängen der Barbarei.

Nachspann: Der Frauenschwarm auf dem Dampfer ist immer noch Opfer seiner Haftpsychose, dreht erneut beim zunächst erfolgreichen Schachspiel durch, aber Liebe heilt ihn letztendlich; er liegt der Balletttänzerin Irene in den Armen und alles wird wohl gut!

Fazit im Filmclub: Die Teilnehmer erkennen zwar inhaltlich die Schachnovelle, diskutieren angeregt die Akzentverlagerungen und Hinzudichtungen. Ausführlich wird die damals so ausdehnende Kameraeinstellung erwähnt; Psychologisierung statt Handlung. Vor allem das beeindruckende Augenspiel des Frauenschwarms Curd Jürgens wird hervorgehoben. Eindeutig war der Film auf den Kinohelden und Lebemann Curd Jürgens zugeschnitten. So sollte die filmische Umsetzung der Novelle zu einem Kassenschlager werden.

Wolfgang Schwarz, 02. Juli 2015