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Literaturkreis: Felicitas Hoppe, Johanna (Leseprotokoll)

Noch bevor wir begannen, Felicitas Hoppes Roman im Literaturkreis zu besprechen, kam auf unserem Sommerfest schon massive Kritik an der Textauswahl. Ich versuchte noch am selben Tag die Wogen zu glätten und verschickte folgende Mail:

Liebe Literaturkreisteilnehmer,

ich muss mich ein wenig (aber nur ein wenig) entschuldigen: Die Verwirrung, den dieser Text ausgelöst hat, ist durchaus nachvollziehbar. Hier deshalb einige zusätzliche Erläuterungen:

Der Einstieg

Der Roman sorgt allein schon deshalb für Verunsicherung, weil er auf zwei Erzähl- und Zeitebenen abgespult wird (historische Fakten und Hörsaalaufzeichnungen). Hinzu kommen noch die Darstellungen der inneren Reaktionen der Erzählerin (Beobachtungen der Verhaltensmuster von Lehrenden und Kommilitonen, Tagträume, Wunschphantasien usw.). Insofern könnte man den Text auch als einen Rezeptionsroman bezeichnen.

 

Während der Prolog sich noch auf literaturgeschichtliche und historische Fakten stützt, vermischt die Autorin in den folgenden Kapiteln die Ausgangssituation mit massiven kreativ- subjektiven Eingriffen.

Ein Dozent, in den die Erzählerin auch noch verliebt ist, wird wortspielerisch als Dr. Peitsche bezeichnet. „Doktor Peitsche, mein Vorbild. Schnelle Zunge, helle Stimme, schlagende Rede, biegsamer Gang. Ich bin längst verliebt.“ (S. 11) Sie treibt es weiter mit uns: Beschreibt Johannas Ende auf dem Scheiterhaufen, assoziiert Kindheitserlebnisse, beschreibt ihren Wunschpartner, leitet über von Ritterhelmen zu Mützen. Mützen dienen Menschen seit langem zur Verschleierung und Gruppenbildung. Während der Vorlesung entwickelt die Doktorandin einen Scheindialog mit ihrem Angebeteten. Auf den Mützen erscheinen Stichwörter wie „Verrat … Ich muss … Messer und Gabel …“ (S.20f). Diese Aufschriften stehen für Personen und Situationen im Jean d`Arc – Prozess und lassen sich zu einer Nacherzählung zusammenfügen. Die Erzählerin wird bei der Vorlesung ständig abgelenkt, sie möchte interpretieren und Einzelheiten erkunden (S.25ff), doch sie steckt in ihren Träumen und Wunschphantasien fest. Am nächsten Tag tritt der Professor selbst auf und will den Lernfortschritt überprüfen. Die Antwort im Hörsaal: „Stille“ (S.33). Die Erzählerin zieht einen Situationsvergleich zwischen Johanna und sich selbst: „Johanna brennt, und ich sitze im Hörsaal“ (S. 34). Dann stellt sie sich vor, mit dem Professor ins Bett zu gehen, wenig später formuliert ihre innere Stimme Selbstzweifel und wird metaphysisch: „Schafft die Sünde ab, und der Spaß ist vorbei. … Ohne Gott auch keine Gegner“ (S. 37). Mit Johanna kann sie sich nicht identifizieren: „ Johanna. Prahlhans. Aufschneider Gottes. Hast wirklich geglaubt, du bist seine Tochter?“(S.39). Die Jungfrauenphantasien der Heiligen sind nachvollziehbar, das Stimmengewirr aus dem Himmel nicht. Die Erzählerin zieht ein erstes Resümee: „Verwirrte Geschichte. So viele Risse, die der Traum einer Jungfrau zunähen soll, weil sie vorgibt zu wissen, wo Frankreich liegt“ (S. 42). Der Professor spricht von „heiliger Einfalt“ (S. 46). Doch er selbst ist auch nur ein mäßiger

Schauspieler, mit der Wahrheit kommt er nicht weiter. Sie träumt davon, mit Dr. Peitsche in ein Schwimmbad zu gehen (S.55).

Der Professor, Dr. Peitsche, die Erzählerin (Doktorandin?) fahren auf Forschungsreise nach Frankreich. Man spricht über Fußball, der Professor doziert selbstgefällig: „Damit wir uns hier nicht missverstehen, Chroniken nacherzählen kann jeder. Aber damit macht man keine neue Geschichte“ (S.74).

Die Autorin wischt die Regeln jeder Schreibwerkstatt vom Tisch: Statt die Erzählweisen auseinander zu halten, wird eifrig vermischt (Ich- und Er-Form, neutrales. personales und auktoriales Erzählverhalten, keine klare Kennzeichnung von Innen- und Außenperspektive). Hoppe hat offensichtlich Spaß daran, die Leser zu verwirren. In Film und Fernsehen würde das dramatisch die Einschaltquoten verringern, dabei ist es im Alltagsleben sonst gar nicht so selten, was die Autorin mit uns treibt. Dazu zum Zwischenschluss eine kleine Anekdote:

Ich habe bisher nur einen Roman von Felicitas Hoppe gelesen, der Bericht von der Weltumrundung mit einem Frachter „Pigafette“. Der Roman hatte mich nicht gänzlich überzeugt und ich habe ihn einen ambulanten Buchhändler für modernes Antiquariat geschenkt. Meine Frau und ich waren am Samstag in der Markthalle bei Markthallen – Klaus. Dabei erzählte er uns leicht amüsiert, er habe im Lotto gewonnen und wolle sich jetzt von allen Belastungen freikaufen und bot uns gleichzeitig einen günstigen Kredit an. Meine Frau zeigte Interesse, aber lachte dabei.

In unserm Alltagsleben bewegen wir uns ständig auf verschiedenen Erzählebenen, spielen mit Wahrheit und psychologischen Befindlichkeiten. Das verwirrt die Zuhörer häufig, aber andererseits lassen wir uns auch gerne auf solche Spiele ein. Also gönnen wir uns und Felicitas Hoppe den Spaß am Verwirrspiel. Deshalb freue ich mich auch heute schon auf den Literaturkreis am 24.08.2015.

Ich verspreche auch, bis dahin die letzten 100 Seiten des Romans gelesen zu haben.

Fortsetzungsdilemma

Ich habe mein Versprechen, rasch auch den Rest des Romans zu lesen, gehalten.

Der erste Eindruck war ernüchternd. Zunächst hatte ich meinen Glauben an die Heilkraft der Literatur verloren, zum Schluss aber doch zum rechten Glauben dank Santa Felicitas zurückgefunden.

„Johanna“ ist ein Roman voller Merkwürdig- und Eigenwilligkeiten. Das beginnt schon vor dem eigentlichen Roman mit der Widmung „PAR MON MARTIN“. Verbirgt sich hinter diesem Schlachtruf der Johanna ein Geliebter, eine Idee oder der konkrete Heilige Martin? In diesem letzten Falle wäre es ja eine Identifizierung mit den sozialen Selbstverpflichtungen des Heiligen Martin und so auch eine Sympathiebekundung für Jean d`Arc. Auf jeden Fall ist die häufige Wiederverwendung als eine leitmotivische Form zu verstehen.

Die Scheinheilige konfrontiert uns zunächst mit einer skurrilen Prüfungssituation zum Thema „Prozess der Jean d`Arc“. Die Erzählerin leidet unter Prüfungsangst und Nichtwissen, kann die wichtigsten Prozessteilnehmer nicht mehr auseinander halten und zweifelt letztlich auch an ihrem Idol Johanna. Noch wohlwollend beurteilt sie das selbst erwählte Jungfrauenedikt.

„Du wolltest dir einfach das Leben nehmen, bevor ein anderer deinen Körper holt“ (S.129).

Dann aber kritisiert sie Johannas „Scheinheiligkeit“, ihre Rücksichtslosigkeit, ihre fehlende Empathie und ihre Ketzereien. Dazu bedient sie sich tiefenpsychologischer Begrifflichkeiten.

Ihre kreativ-literarischen Ausführungen werden wissenschaftlichen Anforderungen nicht gerecht und so fällt das arme Mädchen durch die Prüfung.

Da am Ende des Romans deutlich wird, dass das Prüfungsversagen nur ein Hörsaal-Albtraum war, können wir uns auch diesbezüglich mit der Autorin aussöhnen.

Das Kapitel „Leitern“ lädt zu einem mittelalterlichen Kostümfest in Rouen ein. Hinter dem skurrilen Geschehen steht die Erkenntnis, dass Kostüme so etwas wie eine Wiedergeburt sind.

Die Erzählerin wird dabei auch philosophisch, als sie vor der verschlossenen Haustür ihres geliebten Dr. Peitsche steht und dessen Nachlasszettel liest: „Ich bin unterwegs.“ und diese Nachricht kommentiert: „Das sind wir ja alle, also bin ich es auch“ (S.140)

Aber auch das Heiligsprechungsprozedere wird ins Visier genommen. Für rational gepolte Menschen ist es nicht nachvollziehbar, zumal Santa Johanna erst 1920 heilig gesprochen wurde. Also zu einer Zeit, als z.B. Albert Einstein zur Höchstform auflief und 1921 ebenfalls heilig gesprochen wurde, indem er den Nobelpreis erhielt.

Im Kapitel „Himmel“ geht es um die Frage des Glaubens. Auf der Phantasiereise nach Rouen begegnet die Erzählerin Bruder Martin, den Kuttenteiler. In Rouen zeigt sich, dass der Mönch auch Fremdenführer ist. Er erläutert einer Kindergruppe das Leben der Heiligen Johanna. Die Kinder schweben förmlich, erfüllt vom scheinbar unerschütterlichen Glauben. Die Erzählerin weint ihrer eigenen Kindheit nach. Auch als die „Apostelchöre“ so ergreifend „Es lebe die Jungfrau“ singen, vermag sie nicht mitzusingen, obwohl sie es gerne täte, aber die Zweifel sind zu groß. Sie verdammt sich selbst: „Verfluchtes Herz! Das eine bereit, das andere nicht.“ (S.163).

Was aber bleibt? - Ihre Liebe, der wunderbare Dr. Peitsche, der sich gerade schwimmend im Hörsaal davon macht. Alles, das Prüfungsdebakel, das Kostümfest, die Frankreichreise, der Rouenaufenthalt, das Schwimmbad, die Amouren, alles, einfach alles entpuppt sich als Hörsaalträumerei.

Und was lernen wir daraus?

Vorlesungen können uns in eine andere Welt versetzen. Also bitte, auch für uns ist es nicht zu spät, schließlich gibt es in Kassel die Bürger-Uni und Aka55plus!

Wolfgang Schwarz, im Oktober 2015